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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Wachbeben einer großen Macht, was genau es war, wußte er nicht, er wußte nicht, ob gut oder schlecht, er wußte nicht, wo auf der Welt – ein Erzittern der Erde, das alles verändern konnte.
    »Gut, Marv. Ich bin jetzt reif fürs Bett.«
    Noch ein Laden. Der einzige in der ganzen Straße, wo er zuvor gewesen war, von einem Bekannten geführt, einem Kollegen, könnte man sagen, Tommy Chan, vielleicht des Landes erster Baseball-Memorabilist, falls es dieses Wort gibt.
    Sie stiegen ein paar schmutzige Stufen hinunter in ein dunkles, gemütliches Kämmerchen, wo sich Spielprotokolle türmten, alte Liederbücher und tausend andere Baseball-Kuriositäten, ganze Berge von Tabellen und Dokumenten in wackligen Stapeln.
    Eleanor seufzte aus tiefster Brust wie ein erlegtes Rebhuhn.
    Und da saß Tommy auf seinem hohen Stuhl, Stuhl und Kasse auf einer Plattform, eine höhere Insel als die aufragende Masse aus altem Papier, das sich chemisch braunverfärbte, und Marvin mußte an die ganze Spielberichterstattung denken, die er auf seiner Suche gesehen hatte, Fans in den Polo Grounds, die Spielprotokolle und Zeitungen auf das Spielfeld warfen, während der Tag verblaßte und die Dodgers ihrem Untergang entgegenspielten. All die Spreu der Dämmerung. Vielleicht lag irgend etwas davon auch hier und heute herum, aufgehoben vom Reinigungspersonal des Stadions, irgendwann in den Untergrund von Erinnerung und Sammlerleidenschaft eingegangen, der Spielprotokoll-Flieger eines kleinen Jungen, ein paar Blätter Toilettenpapier, unter Jubel von der oberen Tribüne herab entrollt und vielleicht vorsichtig von einem der Spieler signiert, die Streu eines Baseballspiels, viele Jahre später hier zur Ruhe gekommen, am anderen Ende eines Kontinents.
    »Das ist meine Frau.«
    »Wir kriegen nicht viele Frauen zu Gesicht«, sagte Tommy höflich und weise wie ein buddhistischer Mönch einer Hinterlandgemeinde.
    »Kaum zu glauben, daß du überhaupt wen zu Gesicht kriegst. Denn mal ehrlich, wer soll schon hierherkommen?« sagte Marvin. »Du mußt den Laden doch halbwegs präsentabel machen.«
    »Präsentabel.« Hübsches Wort. »Marvin, denk nach. Was verkaufe ich hier? Ich sitze doch nicht in einem Einkaufszentrum auf dem Land und verkaufe Haushaltswaren.«
    Er war ein cleverer Bursche mit möchtegern-sympathischen, aber alterslosen Gesichtszügen, was Marvin irritierte, denn man weiß schon gern, wie alt einer ist, wenn man mit ihm redet.
    »Was hast du heute verkauft?«
    »Ihr seid meine ersten Kunden.«
    »Guck nicht so blasiert aus der Wäsche.«
    »Ich bin seit heute mittag hier. Die anderen Geschäfte machen erst sehr spät auf.«
    »Seit heute mittag. Und kein Mensch.«
    »Wie interessant, eine Frau zu sehen«, sagte Tommy.
    Eleanor stand reglos da, vielleicht gelähmt durch ihren exotischen Status.
    Sie sagte: »Müssen Sie den Leuten nicht einen Kaufanreiz bieten? Nicht daß es mich irgendwas.«
    »Einen Anreiz.« Ganz neue Idee. »Der Anreiz kommt von innen, denke ich. Dieses Material ist ästhetisch gesehen uninteressant. Verblichen und bröselig. Altes Papier, sonst nichts. Die meisten Kunden fühlen sich gerade von Wirrwarr und Durcheinander angezogen. Sie spüren, daß sie ein Teil dieser Geschichte sind.«
    Marvin sagte zu Eleanor: »Ich dachte immer, wer dieses alte Zeugs aufhebt, dieses Baseballzeugs, der lebt an der Ostküste, dachte ich immer. Ich dachte, da spielt sich die ganze Erinnerung ab. Tommy ist der erste Sammler, den ich westlich von Pittsburgh gefunden habe, landesweit.«
    Tommy hatte ein dermaßen leichtes, flüchtiges Lächeln, daß es höchstens die NASA auf Spezialfilm festhalten konnte. Sein kleines Nippesgesicht trieb im Halbdunkel dahin, und Marvin hatte das kindliche Bedürfnis, die Hand auszustrecken und es zu berühren, nur um zu sehen, ob es sich so anfühlte wie seines, die rauhe, stumpfe Oberfläche, die er jeden Tag wusch und rasierte.
    »Hast du deinen Pappenheimer gefunden?« fragte Tommy.
    »Das Schiff hab ich gefunden. Den Pappenheimer kannst du vergessen.«
    »Du mußt es aufgeben.«
    »Wer sagt das?«
    »Du kannst die Vergangenheit nicht präzise orten, Marvin. Gib es auf. Mach einen Rückzieher. Zu deinem eigenen Besten.«
    »Wer sagt das?«
    »Mach dich davon frei«, sagte Tommy.
    »Du sitzt hier und atmest Staub ein wie was für ein Standbild.«
    »Pferde«, sagte Eleanor.
    »Ein Pferdestandbild im Park.«
    »Stimmt. Meine Lage ist noch unwirklicher als deine. Du kommst wenigstens noch herum. Ich

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