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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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eines jener Rätsel, wenn ein gesamtes Volk verschwindet. Ich dagegen studierte die Schutzüberdachung mit den großen, kantigen Säulen, vielleicht zwanzig Meter hoch, und das Gittergerüst, auf dem das Dach ruhte.
    Lainie kam und stellte sich neben mich, sackte geradezu an meiner Hüfte zusammen, was bedeutete, daß sie sich rettungslos langweilte.
    Die Parkwächterin führte einige Gründe auf, warum das Volk möglicherweise verschwunden war, die Wüstenbewohner. Sie nannte Flut, sie nannte Dürre, sie nannte Invasion, aber sie sagte, das seien nur Spekulationen – keiner hätte eine Ahnung von den wahren Gründen.
    Ich dachte an Jesse Detwiler, den Müllarchäologen, und fragte mich, ob er wohl auf die Idee käme, daß das Volk die Siedlung verließ, weil sie von ihrem Müll verdrängt wurden, weil sie keinen Platz zum Leben und Atmen mehr hatten, umgeben von ihrem eigenen, anwachsenden Müll, und irgendwie war es nett, sich vorzustellen, das sei der Grund, da gibt es so ein romantisches Wüstenrätsel, und die Antwort springt einen förmlich an.
    Ich wurde allmählich Simshaft, viel zu schnell, überall sah ich Müll oder interpretierte ihn in etwas hinein.
    Ich schickte Lainie los, ihren Bruder zu suchen und nachzuschauen, was er mit den Autoschlüsseln angestellt hatte. Dann machten wir uns auf den Heimweg wie eine zerlumpte Pilgerschar, der es versagt geblieben ist, die Tränen der Marienfigur zu sehen.
    Wir waren zehn Minuten im Wagen, als Marian anfing zu weinen. Sie saß am Steuer, wurde rot im Gesicht und fing leise an zu weinen. Lainie, die direkt hinter uns stand, wich zurück und setzte sich ans Fenster, die Hände im Schoß gefaltet. Jeff interessierte sich zunehmend für die Landschaft.
    Ich sagte: »Soll ich fahren?«
    Doch sie schüttelte den Kopf.
    Ich sagte: »Laß mich fahren, ich fahre.«
    Sie winkte ab, sie wollte fahren, das wollte sie.
    Wir waren auf einer Nebenstraße, die von Kandelaber-Kakteen und Wildblumen gesäumt war, gekerbten Kakteen, zerpickt von Vögeln, die dort brüteten, und dann erreichten wir den Interstate-Highway und fädelten uns in den Sturmwind des dahinströmenden Verkehrs ein.
    Keine Nachnamen, keine nachhallenden Nachgedanken. Das besagt der Pakt beim zufälligen Sex. Aber ich hatte ihr meinen Nachnamen gesagt, und zufällig war es auch nicht gewesen, oder? Das war die seltsame Dominante dieses Stücks, daß ich sie erreichen, ihren Atem zur Ruhe bringen, ja, sie atemlos machen wollte. Donna hatte etwas an sich, das mir die Zunge löste. Schuldgefühle später, als ich Marian neben mir spürte, die im Dunkeln schlief.
    Wenn wir uns nicht leiden konnten, meistens auf der Heimfahrt, nachdem wir abends ausgegangen waren, wenn Gesicht und Stimme des anderen uns wie erwartet anwiderte, bis hin zum Tonfall, zum kleinsten Hauch von Gestik, denn du hast es schon tausendmal gesehen, und es sagt dir viel zuviel, so sparsam es auch sein mag, es sagt dir nämlich alles, was nicht stimmt – wenn wir das erlebten, Marian und ich, dann glaubten wir, es läge daran, daß wir den Sinn, die Energie erschöpft hätten, die unsere Verbindung speiste. Abendliches Ausgehen war schon eine Provokation. Dabei hatten wir eigentlich gar nichts erschöpft – es gab unverbrauchte und ungesagte und in der Schwebe gelassene Dinge, und an diesem Punkt fühlte sich Marian zurückgewiesen.
    Marian in ihrer Big Ten Town, in Sicherheit herangewachsen, geschützt vor dem wimmelnden Leben auf der Straße, fühlte sich deshalb benachteiligt – privilegiert und benachteiligt, typisch amerikanisch. All die Szenen, vor denen sie beim Fernsehen zurückschreckte, die Darstellung von Verbrechen in den Lokalnachrichten, wir sehen die Leiche auf der Straße, das Wehklagen der Verwandten, den Verdächtigen, der sich zusammenkauert, um sich zu verbergen – Marian konnte nicht einmal hinschauen, wenn der Detective seine
    Hand auf den Kopf des Verdächtigen legte und ihn in die Zivilstreife schob. All das war Gewalt, Beschädigung der Seele. Aber meine Geschichten, meine Angelegenheiten wollte sie, je härter, je lieber.
    Ich ging selbstsüchtig mit der Vergangenheit um, selbstsüchtig und abschirmend. Ich wußte nicht, wie ich Marian in diese Jahre einbeziehen sollte. Und ich glaube, Schweigen ist die Auflage, die man als Urteil für seine Verbrechen akzeptiert.
    Sie sagte, es sei wegen ihrer Mutter, sie sagte, heute vor genau zwei Jahren sei ihre Mutter gestorben, und ich wiederholte es noch einmal für die

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