Unterwelt
Greta.
Ich schaute Loyal an, der mit seinem Löffel in der klumpigen Milch herumfuhrwerkte.
»Ja, das ist eigentlich eine gute Frage.«
»Und wie lautet die Antwort?« sagte sie.
»Tja, ich hatte eine kleine Rangelei im Fahrstuhl. Ist es so auffällig? Im Hotel. Ich wußte nicht, daß die Spuren noch zu sehen sind. Zwei Betrunkene. Ein Weißer und ein Schwarzer.«
Sims amüsierte sich in seinen heißen Reeboks, wie ich merkte.
»Nick hat angefangen«, sagte er zu ihr.
»Ehrlich?«
Sie sagte es zu mir, aber sie schaute dem Kind beim Frühstücken zu. Wir alle schauten Loyal an.
»Sie haben zu ihm gesagt, er kriegt wohl ein paar graue Haare, und er ist ausgerastet«, sagte Sims.
Greta mußte das Kind zur Schule bringen und dann zu ihrer eigenen Schule fahren, wo sie an drei Tagen in der Woche Chemie unterrichtete, den Ozean im Rücken.
Sims und ich standen am selben Fleck und tranken Wasser.
»Seid ihr zwei immer noch sauer?« fragte ich.
»Sie ja. Ich bin drüber weg.«
»Ich muß mein Flugzeug kriegen«, sagte ich zu ihm.
Er duschte und zog sich an und brachte mich zu meinem Hotel, und ich duschte im Eiltempo und zog mich an und schnappte mir die Tasche und setzte mich wieder ins Auto, und an der Autobahn war ein Mann, ein Mann auf dem Seitenstreifen, er nickte mit dem Kopf zum Verkehrsfunk im Radio, saß im Gras und hielt etwas auf den Knien, Sims meinte, es sei ein Gewehr, und ich meinte, es sei eine Krücke mit Unterarmstütze, und ich brauchte ein paar Sekunden, um zu merken, daß Sims mich aufzog – war doch nur die Sprache der Autobahn.
Ich fand Südkalifornien einfach zu interessant. Die neuen Entwicklungen bei den Militärflugzeugen, die Fehlersysteme, das Inferno aus Autos und Smog, die Frauen von Nirgendwo, selbst die Straßengangs, die zu der Zeit berühmt wurden und die sich mit den Farben der Unis schmückten. Ich machte Geschäftsreisen, aber nach dem ersten Mal nur noch kurz und mit Scheuklappen. Hier schien alles auf der Kippe zu stehen, eine Stimmung, die sich in die unbefangensten Bemerkungen einschleicht und zur Vorhut entfremdeter Gefühle wird.
Damals, als ich George Manza erschoß, begriff ich zum ersten Mal diese Art von Gefühl. Sie steckten mich in einen Funkwagen mit einem Polizisten, der rauchte, und irgendwann schickten sie mich in eine Einrichtung auf dem Land, im Staat New York, die eine der Merkwürdigkeiten des Strafsystems zu bieten hatte. Da gab es einen Minigolf-Platz, neun Löcher, mit Türmchen und Windmühlen wie aus einem Comic – wir waren doch jugendliche Straftäter, und vielleicht dachten die Betreuer, wir fänden den Kindergartenstil, die hellen Farben oder das anale Zeug mit Bällen und Löchern irgendwie heimelig und behaglich. Was weiß ich. Ich wußte es damals nicht und weiß es bis heute nicht. Aber meine Kumpel und ich, die Schwerverbrecher der Kategorie D und E, die Totschläger, die Diebe in der Nacht, eine gemischte Gruppe, wie man sich unschwer vorstellen kann, mit Wettrennen, Schwüren, Schreien in der Nacht – wir schlenderten immer an den Fenstern des Speisesaals entlang und schauten auf den Parcours da unten mit seinen Loopings und Tunnels und Pfützenseen und seinem Stück Kunstrasen, und wir nannten das Ganze Kalifornien.
Phoenix paßte besser zu mir. Ich brauchte ein Privatleben. Doch wie soll ein Privatleben möglich sein, an einem Ort wie hier, wo jedes einzelne deiner Gefühle offenliegt, wo die Spannung in deinem Herzen, das, was du mit Mühe auf kleine, geschlossene Räume beschränkt hast, überall dem weißlichen Licht ausgesetzt und mittlerweile so weitgehend und unverrückbar festgelegt ist, daß du es nicht von Landschaft und Himmel trennen kannst?
Ich kam zur Tür herein, und Marian sagte: »Was ist mit deinem Gesicht passiert?«
Ich komme zur Tür herein, und folgendes kriege ich zu hören, spielende Kinder, spielendes Radio, die Nachrichten, der Verkehr, das Telefon klingelt, die Spülmaschine pumpt sich gerade durch einen Zyklus.
Ich lächelte und küßte sie, und sie hob den Hörer ab. Die Kinder machten draußen im Garten Lärm, unsere und die Nachbarskinder, ein Spiel, das Lainie erfunden hatte – das merkte ich an der Art des Kreischens. Lainie dachte sich teuflische Spiele aus, einfallsreiche, schrille Spektakel voller Torturen und Demütigungen.
»Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«
»Schneiden lassen. Gefällt's dir?« sagte sie, immer noch mit irgendwem am Telefon. »Was ist mit deinem Gesicht
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