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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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dann geschah es, sie schnitt sich in den Finger und beobachtete, wie das Blut an der Messerscheide herausquoll und ungleichmäßig am Fingerknöchel herablief.
    Sie sah Leuten beim Sonnenbaden zu, sie taten das so konsequent, beherrschten die Situation, eine Frau, die sich mit einer Decke und einer Kanne Eistee und einem Kinderglas mit aufgemalten Blumen und einem Taschenbuch, dessen Titel Klara zu erspähen versuchte, auf einen Mauervorsprung plumpsen ließ – das taten sie, ohne irgendwelche Zugeständnisse an die steinernen Vorsprünge oder steilen Dächer oder atemlosen Teerflächen, es war ein demonstratives Hier-bin-ich, und da war der leere Lift eines Fensterputzers, der an der Seite eines schmalen Turms hochfuhr. Sie sah eine Backsteinfassade, überspült von korallrotem Licht, geradezu in Flammen vor Licht, und die Steine wirkten entblößt, so wie nur Licht etwas entblößen kann – gebrannter Ton von einer so intensiven Schönheit, wie sie sich nie hätte träumen lassen. Und da ist wieder die alte Dame, die in ihrem Korbstuhl sitzt und ihre Sonntagszeitungen überall verstreut hat, so vertraut und ermutigend – sie hält einen Reflektor unter ihr Kinn und das Gesicht opfernd der Sonne entgegen, ein breiter Kopf, der in den Tiefen eines Sommertags langsam mumienbraun wird.
    Sie beobachtete, wie das Blut aus dem Schnitt rann, bemerkte die Falten und Spiralen auf ihren Fingern urfd hörte die Musik im angrenzenden Zimmer, das ist Esthers Mann Jack, der eine seiner alten Singles aufgelegt hat, die Swingband-Musik, die seine Gäste raus aufs Dach treibt.
    Der Müll lag dort unten, in identischen schwarzen Plastiksäcken gestapelt, und sie ging auf dem Heimweg an einem ausladenden Haufen vorbei, der einen Feuerhydranten und fast das Schild einer Bushaltestelle bedeckte, und sie sah, daß sich alle einig waren, es nicht zu bemerken.
    Miles Lightman erschien spät zu einem Abendessen auf einem Dach uptown, mit einer Schachtel der schwarzen Zigaretten, die sie rauchte, Queen-Size und extramild und langsam brennend, dazu ein Tütchen Marihuana, das er gerne »Boo« nannte, den Ausdruck hatte er vor vielleicht zwanzig Jahren in einer Bar in Harlem aufgeschnappt.
    Sie waren auf dem Dach eines neuen Gebäudes, vierzig Stockwerke, es überragte den Wasserturm im Park, und sie standen eine Weile da und sahen den nächtlichen Joggern zu. Diese liefen in beträchtlicher Zahl um den Wasserturm herum, der nur schwach beleuchtet war, und Miles fand, sie erinnerten ihn an flüchtende Menschenmengen in einem japanischen Horrorfilm. Er hatte es mit flüchtenden Menschenmengen. Er wollte einen Bildband über das Thema machen. Er sammelte PR-Standfotos von obskuren Filmproduktionen – flüchtende Mengen von Asiaten, die zu irgend etwas Ehrfurchtgebietendem aufsahen.
    Sie standen auf dem Dach und blickten über den Park hinweg auf die Silhouetten der Häuser, die Namen trugen wie Ozeandampfer. The Beresford, Majestic und Eldorado. The Ansonia und San Remo.
    Zu flüchtenden Menschenmengen gehörte immer eine Mutter mit Baby und eine Frau mit herausquellenden Brüsten und ein Mann, der die Arme hochgeworfen hatte, um sich vor irgend etwas Schrecklichem am Himmel zu schützen.
    Miles betrachtete die Jogger, die um den Wasserturm liefen, und plötzlich fiel ihm ein Name für das vierzigstöckige Gebäude ein, das über dem Park aufragte, so hoch und massiv, daß es sein eigenes Wetter machte, die Fallwinde waren fast stark genug, um vorbeikommende Passanten umzuwerfen.
    Godzilla Towers, fand er, sollte es heißen.
    Normalerweise sind es Frauen, die bei einem Karriere-Comeback die entscheidende Rolle spielen. Wenn man von jemandem hört, der in der Literatur wieder von sich reden macht, oder jemand anderem, der in der Malerei liebevoll wieder ausgegraben wird, so liegt das meistens daran, daß eine Frau ein außergewöhnliches Interesse an ihm gezeigt hat, auch wenn der Künstler ein Mann ist. Meistens handelt es sich um eine Frau, aber selbst bei einem Mann – wir haben uns auf vergessene Leben spezialisiert, sagte Klara.
    Sie sprach gerade mit Acey Greene. Acey brauchte natürlich nicht wieder hervorgeholt zu werden. Sie war jung, clever, ehrgeizig und so weiter und auf interessante Weise freundlich-fies, spielte mit Nebeneinanderstellungen als einer Form des ironischen Dialogs mit sich selbst – für sie ein Hilfsmittel, um sich der Aussicht aufs Berühmtsein zu stellen.
    Acey war in Chicago aufgewachsen, wo beide Eltern als

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