Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
Vom Netzwerk:
mit dem sie schon einmal gesprochen hatte, als sie in das unvollendete Gitternetz des World Trade Center gestarrt hatte.
    Ja, hallo, so trifft man sich wieder.
    Und er erzählte ihr, daß die Figuren mit ihrem kultischen Aussehen, über die sie nachgedacht hatte, Gesichter im Schatten des stromlinienförmigen Kopfschmucks, die Titanen der Finanz genannt wurden. Und wie passend verdrießlich waren sie, als wollten sie die Auswirkungen der Depression auf die Straßen unter ihnen messen – sie schätzte, daß die Gebäude um die Zeit errichtet worden waren.
    »Klingt für mich wie irgendeine Geheimbruderschaft.«
    »Mag sein«, sagte er. »Aber alle Bankgeschäfte sind doch geheim, denke ich.«
    Und das konnte sie glauben, bei den Bergen von Granit und Kalkstein ringsum und den neueren Türmen, durchsichtig verhangen, aus Spiegelglas und eloxiertem Aluminium, und jedes Büro heute ohne die geringste menschliche Spur, außer in den Kellern vielleicht, wo Papier durch Mikrofilm-Maschinen gezogen wurde, eine Milliarde Schecks in der Sekunde.
    Er hieß Carlo Strasser. Er wohnte in der Park Avenue und sammelte Kunst mit der unbeholfenen Leidenschaft des Amateurs, so sagte er – eine Wohnung in der Park Avenue und ein altes Bauernhaus bei Arles, wo er das Denken erledigte.
    Und natürlich fragte sie: »Worüber denken Sie denn nach?«
    Und er sagte: »Geld.«
    Sie lachte.
    »Manchmal frage ich mich, was Geld ist«, sagte sie.
    »Ja, natürlich, genau. Das ist die Frage. Ich will Ihnen sagen, was ich denke. Es wird sehr esoterisch. Alles Wellen und Codes. Eine höhere Form der Intelligenz. Reist mit Lichtgeschwindigkeit.«
    Er kleidete sich sehr gut, er war herausgeputzt, er hatte Ausstrahlung und Auftreten, und sie fühlte sich ein bißchen abgewrackt, aber nicht unbehaglich, in ihren Jeans und alten Sandalen. Der Mann bestätigte sie in ihren Voreingenommenheiten, und im Grunde fühlte sie sich wunderbar wohl beim Gespräch mit ihm.
    Sie hörten Nebelhörner vom Wasser her und hielten inne, um zu lauschen, und das Geräusch hatte etwas förmlich Ehrfürchtiges, es rollte durch die engen Straßen, prallte ab, stieß mit sich selbst zusammen, ein Orgelwerk, das die Luft schwellen ließ und Tauben flatternd aus den Uhrtürmen jagte.
    Er stellte Fragen über Maler, und sie tat etwas, das sie fast nie machte – sie erläuterte, sie nahm detaillierte Analysen vor, etwas, das sie selbst früher beim Unterrichten immer zu umgehen versucht hatte. Sie hörte sich in dermaßen feurige und frisch entfachte Ausführungen stürmen, daß ihr klar wurde, sie hatte diese Erkenntnisse vor sich selbst zurückgehalten.
    »Louise hat mir einmal erzählt, Nevelson, sie schaue sich ein Stück Leinwand oder Holz an, und es sei weiß und rein und jungfräulich, und ganz gleich, wie sehr sie ihre Spuren hinterlasse, mit Pinselstrichen und Farben und Bildern, eigentlich gehe es immer nur darum, es in seinen unberührten Zustand zurückzuführen, das sei das Großartige und Beängstigende.«
    Klara konnte diese Bemerkung nicht mit ihrer eigenen Arbeit in Verbindung setzen, aber sie wiederholte sie sich gern in Gedanken – sie mochte die Vorstellung, daß eine berühmte Künstlerin Angst vor dem hatte, was sie tat.
    »Ich habe eine kleine Nevelson«, sagte er, »ein sehr kleines Werk, Vorjahren gekauft, und jetzt haben Sie mir Grund gegeben, es ganz anders zu betrachten, und das werde ich mit großem Vergnügen tun.«
    »Manchmal bin ich in ihr Studio gegangen, dann zeigte sie mir eine schwarze Skulptur, eine schwarz angemalte Holzskulptur, und wenn ich einen Kommentar zur Farbe und zum Material machte, dann schaute sie sich das Ding an und sagte: ›Aber es ist doch nicht schwarz, und es ist kein Holz.‹ Sie hält die Wirklichkeit für oberflächlich und schwach und flüchtig, und in dieser Hinsicht sind wir sehr verschieden.«
    Miles tauchte später auf, und Carlo Strasser verschmolz taktvoll mit der Menge, acht oder neun Gäste standen um einen Tisch voller Käse und Obst und Wein herum, dieser löwenblütige Bordeaux, diese Damaszenerpflaumen und blauschwarzen Nächte, und wie falsch und trocken klang der Donner.
    Wenn sie bei jemandem in der Küche stand und eine Zitrone in Scheiben schnitt, wußte sie, das Messer würde abrutschen, sie würde sich schneiden, und so kam es auch.
    Es war eine jener Mikrosekunden, die lang und gemächlich sind und voller Kerninformationen, und sie wußte, es würde geschehen, und schnitt trotzdem weiter, und

Weitere Kostenlose Bücher