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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Matt.
    »Knochenmarkkrebs. Nierenversagen. Oder du wachst eines Morgens auf und bist fünf Zentimeter kürzer.«
    »Du meinst, sie waren dem radioaktiven Fallout ausgesetzt?«
    »Oder du fängst eines Tages an, dich zu erbrechen, und tust das jeden Tag, sieben, acht Wochen lang.«
    »Aber müssen wir damit nicht rechnen? Gelegentliche Berechnungsfehler. Es ist eine gefährliche Arbeit, das weißt du doch.«
    Eric schien diese Bemerkung Spaß zu machen. Nein, er schien sie zu erwarten, er schien sie ermutigend zu finden. Sie gingen weiter hinaus, an einer großen, parabolischen Düne vorbei, und da draußen war es so zerrend heiß, daß die Luft eine Form der physikalischen Behinderung zu sein schien.
    »Kleine Bauerngemeinden im Luftströmungsbereich der Tests. Fast alle Kinder tragen Perücken«, flüsterte Eric.
    »Wegen der Chemo?«
    »Ja. Und hie und da kommt ein Kind mit fehlenden Gliedmaßen auf die Welt und was nicht alles. Und eine gesunde Frau wäscht sich die Haare, und plötzlich hält sie alles in den Händen. Gerade war sie noch eine umwerfende, äh, Brünette, und im nächsten Augenblick ist sie vollkommen kahl.«
    »Wo?«
    »Vor allem im südlichen Utah, hab ich gehört, denn es liegt im Bereich der Luftströmung. Aber auch woanders. Drüsenkarzinome. Alttestamentarische Ausbrüche großer roter Geschwüre. Riesengroße Kleckse und Rötungen. Und du spuckst Blut, Händevoll. Du schaust dir deine Handinnenflächen an und siehst einen halben Liter radioaktives Blut.«
    Sie gingen an dem elektrischen Zaun entlang, an einem Warnschild vorbei, das ein Protestler oder ein in der Tasche arbeitender, heimlicher Renegat mit Graffiti besprayt hatte.
    »Hältst du die Geschichten für wahr?«
    »Nein«, sagte Eric.
    »Warum verbreitest du sie dann weiter?«
    »Wegen dem Unterton natürlich.«
    »Wegen dem Kitzel.«
    »Wegen dem Kitzel. Dem Biß. Dem existentiellen Brennen.«
    Matty war sechs Jahre alt, als sein Vater Zigaretten holen ging.
    Acht Tage später, als sein Vater immer noch nicht zurückgekommen war, weder angerufen noch eine Nachricht durch einen Freund gesandt hatte, nahm der Junge alles Kleingeld, das er in der Wohnung finden konnte, und machte sich auf den Weg.
    Er war noch nie in genau dieser Richtung über die Hochbahn der Third Avenue hinaus gegangen, aber dorthin ging er jetzt. Dann überquerte er die Avenue, wo die Züge durch den langen Korridor unter Straßenniveau fuhren, auf dem langen Weg von den Vorstädten bis runter zur Grand Central Station. Die Züge, die Nicky eines Tages mit Steinen bewerfen würde. Gut sichtbar am Geländer, während er Steine auf die Züge direkt unter ihm warf.
    Dann stieg er die lange Treppe zu den Straßen am Grand Concourse hoch. Er war schon mit seiner Mutter hier hochgestiegen, um ins Kino zu gehen und einen Eisbecher mit Früchten in der nahegelegenen Eisdiele zu bekommen, und jetzt stieg er die Stufen allein hoch, ging zum Grand Concourse, wo das Kino stand, Loew s Paradise, sechzig oder siebzig Stufen und Gebäude auf Eisenstelzen, wie in einem ganz anderen Land.
    Er sieht sich selbst aus dieser Entfernung, vom weißen Sand aus, wie er auf der anderen Straßenseite steht und die große, italianisierende Fassade des Paradise anschaut.
    Er sieht sich, wie er die Uhr und die Dachbalustrade und die verzierte Kuppel anstarrt.
    Er sieht sich, wie er eine Karte kauft, kaum an das Loch im Fenster herankommt, er schob die Münzen durch das Loch und sah der Kartenverkäuferin zu, wie sie auf ein Ding haute, das die Eintrittskarte aus einem Schlitz herausschickte.
    Er betrat die Eingangshalle. Er spürte eine umhüllende Wärme aus dem dicken Teppich aufsteigen, wie ein glücklich stillhaltender Hund beim Streicheln. In Marmorbecken schwammen Goldfische. Er betrachtete die Kronleuchter aus geätztem Glas. Eine Reihe Balkone ragte vor, wo Gemälde in vergoldeten Rahmen hingen. Er fand dies tausendmal heiliger als die Kirche.
    Er sitzt in seiner Bungalowhälfte auf der Raketenbasis und sieht sich die mit Teppich ausgelegten Stufen emporsteigen, weil er ganz oben sitzen wollte, nah an der Decke des Kinos.
    Er sah den Platzanweiser dastehen, eine Taschenlampe in Gürtelhöhe. Der Platzanweiser trug Tressen auf den Schultern und eine Reihe Messingknöpfe quer über der Brust, und er ließ das Licht wiederholt aufblitzen, nur um das Klicken zu hören. Matty dachte, der Platzanweiser würde ihm sagen, er dürfe nicht auf dem Balkon sitzen, denn der war nur für

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