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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Anwesenden, und halb wollte er den Protestlern schon sagen, sie sollten ihre Aktion doch ein Stück die Straße rauf verlegen.
    Matt sah etwas jüdisch aus, vielleicht auch ein bißchen wie ein Latino. Er hatte, kurz bevor er zwanzig wurde, eine Zeitlang Gewichte gestemmt und seinen weichen, zarten Körper gestählt, der bislang nur als Anhang des Universalcomputer-Schädels gedient hatte. Daheim in der Bronx sagten die Leute, er sähe ein bißchen nach allem aus. Mexikanisch, italienisch, sogar japanisch – sein freundlichstes Lächeln konnte wie eine zeremonielle Grimasse wirken. Ein Phantombild nach sieben verschiedenen Beschreibungen – das war Matt. Er verlor nie die Ähnlichkeit mit dem Studenten vom City College Ende der fünfziger Jahre, arbeitsam, kurzsichtig, begabt und arm, mit der U-Bahn zur Vorlesung fahrend.
    Er saß mit Eric Deming in der Messe. Eric nahm eine Strähne Spaghetti zwischen die Finger und ließ sie langsam, mit einem gewissen Aufwand an schlangenhaften Verrenkungen, in seinen Schlund hinab.
    Matt sagte: »Na schön. Das sind Dinge, die wir zu erwarten haben. Wir sind nicht naiv. Fehler sind ein Teil des Prozesses. Der Wind ändert plötzlich die Richtung, und der Fallout wird in die falsche Gegend geblasen. Oder die Explosion und die Erschütterung sind heftiger, als alle erwartet hatten.«
    »Die gemütlichen fünfziger Jahre. Alle hatten dasselbe an, redeten dasselbe. Alles war eitel Küche, Auto, Fernseher. Wo ist das Pepsodent, Mom? Wir waren dabei, wir wissen doch Bescheid, oder?«
    »Du weißt Bescheid. Ich nicht«, sagte Matt.
    »Du warst auch dabei. Wir waren beide dabei.«
    »Du warst dabei. Ich war woanders.«
    »Dad steht im Laubengang und wäscht den Wagen. Und währenddessen wurden hier draußen für Atomkriegsspiele Truppen in die Gräben geschickt. Und direkt über ihnen fauchten Feuerbälle.«
    »Zu nah postiert, meinst du.«
    »Das habe ich gehört. Du schaust dir deinen Arm an und kannst direkt durchgucken. Im Grunde wird aus deinem Arm ein Röntgenbild von deinem Arm. Du kannst einfach durch den Uniformstoff und die Haut durchgucken. So weiß ist das Licht. Du kannst Blut, Knochen und was nicht noch alles sehen. Aber das ist nicht alles. Du kannst all das mit geschlossenen Augen sehen. Du brauchst die Augen nicht aufzumachen. Du siehst direkt durch die Lider hindurch. Ha!«
    »Und, wurde es offiziell zugegeben?«
    »Eines Tages, wenige Jahre später, wachst du auf, und deine sämtlichen inneren Organe sind verschmolzen. Nur noch ein großer, gallertiger Kloß.«
    »Wurden die Männer denn entschädigt?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Eric.
    »Das kommt also nicht in deiner Gerüchteküche vor.« Eric steckte einen Finger in Mattys Rahmspinat und bugsierte einen zerfledderten Bissen in Richtung Mund.
    »Wozu soll ein Gerücht gut sein, das sich um bürokratische Details schert? Es geht um folgendes«, sagte er. »Es ist ganz offen passiert, aber bis heute ist es ebenso ein Riesengeheimnis. Das besagt jedenfalls die Geschichte. An die ich im übrigen nicht glaube. Sie haben größere Turmdetonationen durchgeführt oder Bomben aus Flugzeugen abgeworfen, und sie haben Truppen zu nahe am Explosionsort stationiert, und sie haben den Fallout nach Utah treiben lassen, wo heute die Kinder mit der Blase falsch rum auf die Welt kommen.«
    Matt wollte Eric gernhaben. Der Knabe war klug, freundlich, irgendwie halbcharismatisch in einer körperlich tolpatschigen, zu lang aufgeschossenen Art. Aber manchmal gingen dem Betrachter Erics Motive in dem Sog seines Lächelns verloren. Man sah das Schattenspiel um den Mund und fragte sich, ob man gerade reingelegt wurde.
    »Du kennst doch die Schule, nicht weit von hier. Das ist jetzt kein Gerücht, sondern Tatsache. Ich war da, habe sie gesehen. Die Grundschule von Abo mit Fallout-Bunker. Ein Stück Wirklichkeit unter der Erde.«
    »So wirklich wie wir.«
    »Wir sind nicht wirklich«, sagte Eric. »Das sind doch nur Kinder. Es ist eine Volksschule. Sie haben noch die Chance, wirklich zu werden. Ich bin dort hingeschickt worden, um vor ihnen zu sprechen.«
    »Als Bombenkopf.«
    »Als ein anständiges jüngeres Mitglied des militärisch-industriellen Komplexes. Eigentlich als Pausenclown.«
    »Was hast du ihnen gesagt?«
    »Am Stadtrand befindet sich ein Wasserspeicher. State Champs steht da in strahlend neuem Anstrich, ihre High-School-Mannschaft ist Meister geworden. Und reihenweise neue Häuser. Dann findest du die Schule, aber nur knapp.

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