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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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die Städte, die Vorstellung von Ehe und Kindern und Jobs und wie schwer es ist, alles richtig zu machen, und sie einigten sich, schacherten und stritten, planten und kämpften.
    Er betrachtete Landsat-Fotos, die vor ein oder zwei Jahren aus dem Weltraum aufgenommen worden waren. Es waren Falschfarben-Bilder, die Anzeichen von Bodenerosion, geologische Zerklüftung und hundert andere Ereignisse und Umstände sichtbar machten. Sie zeigten tektonische Verschiebungen und Driften und industrielle Verwüstung, Milliarden Datenbits, in Bilder umgewandelt.
    Er sah, wie ferne Sensoren verborgene Bedeutungen aus der Erde hervorholten. Wie geschwungene Flächen und Flecken in strahlenden Farben, Computerfuchsien oder Rorschach-Pfützen in namenlosen Schattierungen eine Veränderung der Wassertemperatur andeuten konnten oder wo die bedrohten Grizzlies auf Beutezug oder zur Paarung hingehen. Er betrachtete spindeldünne Riffstrände, die sich weiß wie zerbrochene Knochen abzeichneten. Er fand Städte von beträchtlicher Größe, die in Bergfalten hineingepixelt waren, und sah hoch in den Gebirgsketten schwarze Seen, durch Glazialbewegung geformte Gletschertöpfe.
    Er konnte gar nicht wieder wegschauen.
    Die Fotomosaiken schienen eine sekundäre Schönheit in der Welt zu enthüllen, normalerweise nicht zu sehen, eine halluzinatorische Verschmelzung von Genauigkeit und Entrückung . J eder thermische Ausbruch der Farbe war eine vielschichtige Gefühlsregung, die er weder zuordnen noch benennen konnte.
    Und er dachte an das Leben in den Häusern, eingebettet in die Daten auf der Straße, die aus dem Weltraum fotografiert wurde.
    Und das werden die Sensoren als nächstes aufspüren, dachte er. Die unausgesprochenen Gefühle der Menschen in den Räumen.
    Und dann dachte er unweigerlich an Nick.
    Oft wollte er seinen Bruder anrufen. Er dachte, er würde gern mit ihm über die Arbeit sprechen, die er hier machte. Er würde Nick einen allgemeinen Eindruck vermitteln können, damit er erfuhr, daß der Kleine eine wichtige Arbeit leistete, aber ihm auch sagen, daß sie ihn ab und zu beunruhigte.
    Eines Tages konnte es nämlich dazu kommen, daß er eine Bombe zusammenbaute, die explosiven Bestandteile eines Atomsprengsatzes – das war hundertprozentiges Bombenkopfterrain.
    Matt war sich nicht sicher, ob er allein damit klarkam. Wenn es sein mußte, schon, und Janet würde ihm helfen, sie würde einen klaren Standpunkt einnehmen, den er gegen seine Zweifel stellen konnte, aber er wollte mit Nick reden. Er wollte die Stimme seines Bruders hören, wie sie durch die Telefonleitung kam, die leicht verbogenen Betonungen, die ein buchstäblich ganzes Leben voller Assoziationen in sich trugen.
    Nick war von einer Ernsthaftigkeit, die etwas Europäisches hatte. Er war geformt und zusammengesetzt. Zuerst auseinandergenommen und dann neu ersonnen und kräftig geformt und wieder zusammengesetzt. Und er war zuweilen düster und beherrscht und engstirnig, aber vielleicht würde er dem Kleinen ja einen Rat geben, wie er mit den moralischen und ethischen Aspekten dieser Art von Arbeit umgehen sollte. Hauptsächlich aber wollte Matt einen Beweis von Nicks Interesse. Darauf kam es mehr an als auf einen tatsächlichen Ratschlag, eine Empfehlung oder Meinung, aber das wollte er auch – eine Meinung in der Stimme seines Bruders.
    Er wußte nicht, was sein Bruder sagen würde. Vielleicht würde er sagen, auf diese Weise definierst du dich eben als ernsthafter Mann, indem du die harten Fragen und quälenden Entscheidungen durcharbeitest, und wenn du dranbleibst, wirst du am Ende stärker sein. Oder, Narr du, welche Spuren wird das in deiner Seele hinterlassen, wenn du Vater wirst wie ich? Bedenke, wie schuldig du dich machst, Kinder in einer Welt großzuziehen, die du mitgeschaffen hast – indem du deine Begabung in einen so trostlosen Dienst gestellt hast. Inzwischen mit leiser Stimme. Und wer kennt das kitzlige Geschäft mit Waffen besser als ich, Bruder?
    Aber diese letzte Bemerkung würde er niemals machen, oder? Und Matt machte den Anruf nicht. Sie sprachen nicht oft miteinander, oder sie sprachen über ihre Mutter, oder sie gingen einander gewohnheitsmäßig auf die Nerven, aber vielleicht würde er ihn später anrufen, wenn er das Bedürfnis wieder verspürte.
    Wenn der Wind aus den Bergen blies, gestaltete er die Dünen neu, und wenn man die Tasche verließ und nach oben kam, mit einem Bier und was zu knabbern zu Hause saß, dann sah man die eigene

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