Unterwelt
genau das tat er nämlich, sein vollkommen unerreichbarer Westen, und ihr Vater saß in der Küche, weil dort das Licht besser war.
Sie kannte den Westen nicht und war nie bei so klarem Wetter darübergeflogen. Er sah jung und unberührt aus, er hatte die Fremdartigkeit nie gesehener Welten, er gehörte uns von hier oben aus nicht, er war so überschäumend neu und fremd – wir hatten ihn noch nicht besiedelt.
Klara fiel wieder ein, wer sie war. Sie lehnte sich vom Fenster zurück, und sie war eine Bildhauerin, obwohl sie nicht immer daran glaubte, eine Künstlerin – manchmal glaubte sie denen, die sagten, sie sei es nicht.
Sie dachte an ihre Arbeit, das verdrehte Versmaß von Kitt und Schrott und sein Knittelklingeln, sie dachte an Verrosten und Verrotten und verklumpte Wattebäusche. Sie wollte den Drang zum Arbeiten wieder spüren. Sie wollte aus dem Flughafen hetzen und ein Taxi nach Hause nehmen. Sie brauchte das Gefühl, daß es wieder in Gang kam, plötzlich, dieses verläßliche Gefühl, diese Neuheit, einen Schwall Leben hinter den Augen.
Sie telefonierte auf der Suche nach Acey herum und erreichte sie ein paar Tage später, sie war verbittert und zugeknöpft und wollte nicht reden. Aber Klara redete mit ihr. Das konnte sie gut. So hatte sie tausendmal mit Teresa geredet, der Tochter, die fest entschlossen war zum Unglücklichsein.
An dem Abend aßen sie miteinander und sprachen weiter. Klara hatte es im Griff. Redete zu und ermutigte. Das konnte sie gut. Sie wollte gern helfen, und sie half.
Der Kellner stand da und betete die Tageskarte herunter. Weiter unten in der Straße brannte es, oder es war falscher Alarm, und eine Lautsprecherstimme brach aus einem der Spritzenwagen hervor und übertönte alles ringsum, und die Tage wurden früher dunkel, die Straßen begannen, etwas Mittelalterliches anzunehmen, da waren seltsame, verhüllte Frauen, vermummt wie Tuaregs, in Schrottautos lebend, auf der Hut und stumm, und diejenigen, die für Kleingeld in Unterführungen tanzten, und diejenigen mit ihrem eigenen Radioprogramm, das man auch ohne Radio hören konnte, denn sie verfolgten einen die Straße entlang, durch die endlose, inspirierte Katastrophe namens New York.
Nach einer Weile standen ein paar Leute auf und gingen herum. Sie gingen nicht fort, fast keiner ging. Die Aufnahme lief immer wieder, und sie gingen herum, sie kamen aus ihren Ecken und besichtigten die anderen Räume oder standen vor der Wand aus Fernsehern. Sie glichen Touristen, die durch die Räume einer kleinen Privatsammlung schlenderten, durch das Zapruder-Museum, ein einziges Stück in Dauerausstellung, die zwanzig Sekunden-und-ein-paar-gequetschte eines Heimvideos, und es läuft endlos weiter.
Es lief endlos weiter, Männer, die die Staatsmacht verkörperten, der Film verschwamm im Sonnengleißen, und mit ihren zuversichtlichen Frauen in einem Wagen fuhren, ganz die holprige Qualität eines Geburtstagsfilms.
Oder sie blieben am Boden sitzen und gaben einen Joint herum und schauten einfach weiter hin, mit irgendwie aufgesetzter Ehrfurcht, jetzt kommt das Auto, jetzt kommt der Schuß, und es war erstaunlich, daß es kulturelle Kräfte gab, die imstande waren, diese Leute in der Phantasie zu überbieten, ihre zugedröhntesten Terrorvisionen sinnlos und billig aussehen zu lassen.
Auf manchen Fernsehern lief der Film mit normaler Geschwindigkeit, auf anderen in Zeitlupe, und das Auto bewegte sich über die Elm Street und am Highway-Schild vorbei, und der Kopf kippte aus dem Bildausschnitt und kam wieder hinein, und der Schuß kam überraschend.
Auf verschiedenen Bildschirmen waren verschiedene Phasen der Sequenz zu sehen, und das Auge des Zuschauers konnte von Zapruder 239 zurück zu 185 springen und runter zum Kopfschuß und hinüber zu den Anfangsbildern, und auf der Wand aus Fernsehern waren die Geräte und Bilder zu Mustern angeordnet. Die Wand aus Fernsehern war eine Art Spielbrett aus Diagonalen und Senkrechten und so weiter, ineinandergreifende Tarockkarten der Schicksalsgewalt oder synchrone Bilder, die in einem X-Muster abliefen, und was auch immer die Mathematik dieser Wand war, es liefen hundert Bilder gleichzeitig, da kommt das Auto, da kommt der Schuß, und obwohl man es auf den Bildern nicht sehen konnte, war sich Klara sicher, daß sich auf dem Schulbuchdepot ein Hertz-Schild befand – sie hatte es auf Fotos gesehen, bis heute vergessen und dachte nun, noch so eine beiläufige Merkwürdigkeit, wie nebensächlich
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