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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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auch immer, ein Mietwagenschild, das über dem Autokorso schwebt.
    Ein Mann und eine Frau standen in einem Wandschrank, die Türen offen, sie waren offensichtlich stoned und nicht besonders auffällig und fummelten lustlos herum – Klara erhaschte zufällig im Vorübergehen einen Blick auf sie.
    Sie wußte, sie würde beim Abendessen von Miles etwas über die geheime Manipulation der Geschichte zu hören kriegen, oder zumindest von einem derartigen Versuch, oder daß die Fachleute anscheinend keine scharfe Kopie des Films zustande bringen konnten oder was auch immer. Aber der Film war in Wirklichkeit von einer kraftvollen Offenheit, er war spiegelglatt und kunstlos und vollkommen davon durchtränkt, das zu sein, was er war, ein Film. Er transportierte eine Art inneres Leben, etwas, das unverbunden war mit den Dingen, die Phänomene heißen. Dieses Stück Film schien ein Argument über das Wesen des Films selbst vorzubringen. Der Wagen, der auf der Elm Street weiterfuhr, der durch das Kameragehäuse transportierte Film, eine gemeinsame Dunkelheit – dies war ein Tod, der aus dem strömenden Treibgut des tiefsten Geistes emporzusteigen schien, er kam aus einer Nacht des Geistes, irgendein Trick mit der Filmemulsion zeigte das Gespenst des Bewußtseins. So dachte sie sich das jedenfalls. Sie überlegte, ob dieses Heimvideo eine krude, lebendige Ähnlichkeit mit der Technologie des Geistes hatte, mit jenem Todesszenario, das im Geist abläuft, denn es wirkte so vertraut, dieses Filmmaterial – es wirkte wie etwas, das man durchaus sah, nicht sah, sondern kannte, ein Vorbild für jene Nächte, in denen wir unserem eigenen Sterben näher kommen.
    Jemand gab ihr einen Joint rüber, sie gab ihn zurück.
    In einer großen Truhe war der Bildschirm vierfach unterteilt, und der Kopfschuß lief in jedem Sektor, und »Das liegt jenseits der Sprache«, sagte Miles, womit er auf seine Weise sagte, es war ausgeflippt oder Wahnsinn oder die anderen Sprüche, die sonst kamen, und das hier war ein Ereignis von Anfang der sechziger Jahre, verspätet angeschaut und nunmehr Zeichen für das Ende der Begriffe, Ausdruck all des Deliriums, das durch die Ära schwebte, und die Leute standen herum und redeten, ein Mann und eine Frau fummelten in einem Wandschrank bei offener Tür herum, lustlos, und es roch noch stärker nach Gras, und die Leute sagten, »Gehn wir essen« oder was sie sonst sagen, wenn etwas allmählich zu Ende geht.
    Das Video lief endlos weiter, ein Mann in den Vierzigern in Anzug und Krawatte, und alle Geräte zeigten es jetzt in Zeitlupe, wie er mit seiner zuversichtlichen Frau in einem Wagen fuhr, und der Film bekam etwas Elegisches, lief immer langsamer, lief aus, ein Gefühl von Erhabenheit eigentlich, der königliche Schimmer des Wagens und die Ermordung einer Gestalt wie aus dem düstersten Sagengut – erhaben und königlich, der entsetzliche Sprühregen aus Gewebe und Schädel, so klobig langsam, auf der Elm Street, und sie besorgten sich etwas zu essen und gingen in den Loft, wo sie ein paar Stunden lang Karten spielten und nicht über Zapruder sprachen.
    Sie heiratete Carlo Strasser in seiner Wohnung in der Park Avenue, vor einem Friedensrichter und fünfundzwanzig Freunden des Paares. Carlos Tochter war da, das jüngste seiner drei Kinder, ein schönes, hochaufgeschossenes Mädchen von fünfzehn, das bei seiner Mutter in Brüssel lebte. Es war einer jener Herbsttage in New York. Und Klaras Tochter ließ sich ebenfalls blicken, ungefähr eine halbe Stunde zu spät, aber lebhaft und frisch, vollkommen unmißmutig – sie umarmte die Leute links und rechts und tanzte nach der Zeremonie mit Jack Marshall.
    Es war einer jener blankgefegten Herbsttage. Die Braut trug eine alte Brokatjacke, die früher ihrer Mutter gehört hatte und davor noch jemandem, einer Cousine zweiten Grades oder Großtante, und davor vielleicht noch jemandem, vor Amerika. Die Leute aßen, wo immer sie Platz fanden, stehend oder steif auf Vestibülstühlen sitzend, und es wurde nicht lange getanzt – die ganze Sache sollte sich nicht unbedingt in die Länge ziehen.
    Als die Gäste weg waren, beschlossen sie spazierenzugehen, Braut und Bräutigam und ihre Töchter, und nach einer Nacht steifer Winde war die Luft saubergespült, und das Licht war so scharf, daß die Entfernungen im Park geschrumpft schienen. Wolken kamen auf, Gutwetterkumuli, mit hohem Bug dahintreibend. Es war einer jener Tage im Central Park, an denen eine kondensierte

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