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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Tiefe der Bewegung, als Mann und Stuhl in verschiedene Richtungen flogen.
    Dr. Lindblad hätte vielleicht gesagt: »Das ist eine extreme Reaktion, weil der Geist dichtmacht. Es ist das Ende der Bewußtheit. Deshalb dreht der Körper durch. Der Körper zeigt dir, was dem Geist passiert. Wie der Kummer den Körper eines Menschen knickt. So sieht Bewußtheit aus. So rudert und fuchtelt sie, wenn das Ende plötzlich und gewalttätig und der Geist unvorbereitet ist.«
    Und ich hätte vielleicht geantwortet: »Sprechen Sie von seinem Geist und dessen plötzlichem Ende oder von meinem?«
    Aber sie sagte es nicht, und ich sagte es nicht, denn ich sagte ohnehin nicht viel. Anders als die Alley Boys. Sie erzählten ihr, daß sie sich im totalen Kriegszustand mit der Gesellschaft befänden. Sie erzählten ihr, so würde es bis zu ihrem Tod bleiben. Die Gesellschaft wollte ihren Tod. Die Alley Boys waren zu gerissen, um das nicht zu wissen. Sie erzählten ihr, nach der Entlassung würden sie wieder auf die Straße gehen, die nur eine weitere Abteilung des Strafsystems sei und umgekehrt, und sie würden zurückgehen und machen, was sie immer gemacht hätten, sagten sie ihr. Sie würden dealen, stehlen, ihre Schäfchen ins Trockene bringen, ihre Kanonen tragen und den Krieg weiterführen.
    Das Buch paßt zur Hand, es paßt zum Individuum. Wie du ein Buch hältst und die Seiten umblätterst, Hand und Auge, die Routinebewegungen, Schotter auf einer heißen Landstraße harken, die Zeichen auf der Seite, die Art, wie eine Seite der nächsten gleicht und doch ganz anders ist, die verschiedenen Leben in Büchern, die ergrünenden Hügel, alte, sanft gewellte Hügel, die dir das Gefühl gaben, ein anderer zu werden.
    Dr. Lindblad versuchte, meine Seele zu bearbeiten. Sie glaubte an meine Erlösung. Sie sondierte alle Faktoren meiner Geschichte, sie gab mir Bücher zu lesen, und ich las sie, sie schlug vor, was passiert sein könnte, und ich dachte darüber nach. Aber ich war unschlüssig, ob ich damit einverstanden war, eine Geschichte zu haben. Sie benutzte den Ausdruck oft, und die Vorstellung fiel mir schwer, daß all das Geschubse und die Langeweile jener Jahre, ewig alles kreuz und quer, die Langeweile und Lichtblicke und Strohfeuer und Abende, immer derselbe Scheiß – ich begriff nicht, wie der schlierige Nebel meines nächtlichen Denkens irgendeine Form oder Schlüssigkeit haben könnte. Vielleicht gab es da eine Geschichte in ihren Akten, aber mein Gefühl von mir selbst sah anders aus, ich hatte in einer engen Straße an einer Wand gelehnt und ein paar Jahre weitgehend sinnloser Warterei runtergerissen.
    Aber du hast doch etwas empfunden, oder? Du hast die merkwürdige Faszination seines stürzenden Sterbens empfunden, so wildarmig und ungeschminkt, daß du nicht wußtest, wie du hinschauen solltest.
    Sie erklärte mir, mein Vater sei die dritte Person im Zimmer gewesen, an jenem Tag, als ich George Manza erschoß. Das war mir echt neu, und ich mußte halbwegs lachen – na ja, so wie man sich eben nervös einen Zug Luft durch die Nase kichert. Sie erklärte mir, die beiden Ereignisse seien so oder anders miteinander verknüpft, was heißen sollte, sechs Jahre, nachdem Jimmy verschwunden war, erschoß ich einen Typen, der meinen Vater nicht oder kaum gekannt, nur ein paarmal auf der Straße gesehen hatte, und das war eine Verbindung, die sie sondieren wollte.
    »Du hast eine Geschichte«, sagte sie, »und der bist du verantwortlich.«
    »Was meinen Sie mit verantwortlich sein?«
    »Du bist ihr verantwortlich. Du mußt dafür geradestehen. Du mußt versuchen, ihren Sinn herauszufinden. Du schuldest ihr deine ganze Aufmerksamkeit.«
    Sie redete in ihrer engen Bluse immer weiter über Geschichte. Aber ich sah nur den wildarmigen Mann, wie sein Körper in die eine Richtung wirbelte und der Stuhl in die andere. Ich sah nur die rohe Schande jener engen Straßen, die immer enger wurden und langsam einstürzten, und das dumpfe, hoffnungslose Einerlei der Tage.
    Dann kamen sie und sagten mir, ich würde früher entlassen, unerwartet, an einem Sommertag. Ich wußte nicht genau, wie ich das fand. Sie sagten, ich würde zu den Jesuiten geschickt, ans wintrige Ende der Welt, irgendwo bei einem See in Minnesota.

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    8. OKTOBER 1957
    A n diesem Nachmittag waren die Demings daheim, emsig bei verschiedenen Pflichten in ihrem Split-Level-Vorstadthaus, einem langgezogenen, zweifarbigen Bau im Kolonialstil mit Panoramafenster, Laubengang

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