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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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eine der tausend praktischen Seiten von Jell-O. Man konnte das Wort überall hinpacken, nach vorn, nach hinten oder in die Mitte. Es war ein Knopfdruckwort, so wie heutzutage viele Dinge auf Knopfdruck gingen, wie sich die ganze Welt hinter einem Knopf, den man drückte, auftat.
    Kann zur Verfärbung von Harn oder Stuhl führen.
    Eric schlängelte sich an der Wand entlang und schlüpfte ins Badezimmer, das schlappe Kondom in der Hand. Er wusch es am Handbecken aus, zog es sich über den Mittelfinger und richtete es auf seinen Mund, um es trockenzublasen. Und in der Kinofassung seines Lebens stellte er sich vor, wie alles auf eine CinemaScopeLeinwand projiziert wird, all die heimlichen Dinge, die er über die Jahre ganz alleine getan hat, und jetzt, nach seinem Tod, steht alles zur öffentlichen Vorführung bereit, und all seine toten Verwandten und Freunde und Lehrer und Pfarrer können ihm dabei zusehen, wie er sich den Finger, auf dem ein Kondom sitzt, praktisch in den Mund steckt und rhythmisch hechelt, um es trockenzukriegen. Er hörte, daß ihn seine Mutter rief.
    Er mußte es waschen und wieder benutzen, denn dies war das einzige, das er besaß, ausgeliehen von einem anderen Jungen namens Danny Anderson, der es bei seinem Vater aus dem Versteck unter den zusammengerollten Socken geklaut hatte, hoch und heilig schwörend, daß er es niemals selber benutzt hatte – was sich allerdings erst mit letzter Sicherheit feststellen ließ, wenn beide Jungen tot waren und Eric die Möglichkeit bekam, das Filmmaterial zu sehen.
    Erstickungsgefahr! Darf nicht in die Hände von Kindern gelangen.
    Eric versteckte den Gummi in seinem Zimmer, in eine Schachtel Spielkarten gepreßt. Er warf einen langen Blick auf das Bild von Jayne Mansfield, bevor er es in den Weltatlas auf seinem Schreibtisch schob. Er stellte fest, daß Jaynes Brüste nicht so echt aussahen, wie er es in seinem emotional verletzlichen Zustand, den Spatz in der Hand, geglaubt hatte. Sie erinnerten ihn an etwas, doch an was? Und dann wußte er es. An die Stoßstangenpuffer beim Cadillac.
    Er ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank, mal schauen, was da los war. Die bunten Farben, die Markennamen und Markenzeichen, die aufgereihten vertrauten Formen, der Glitterglanz der folienverpackten Dinge, der allgemein angenehme Anblick einer guten Augen-Überraschung, das Gefühl eines kleinen Urlaubs auf den Regalen und in den Fächern einer unverdorbenen, stets zu erneuernden Welt. Doch da war noch etwas anderes, leicht beunruhigend. Vielleicht das Pulsen. Der Informationsfluß eventuell, enthalten in dem endlosen motorisierten Pulsen. Öffne die große weiße Tür, wie zu einem Gewölbe, und spüre den kühlen Hauch von arbeitenden Systemen, die Strom in Kraft umwandeln, Tag und Nacht übermenschliche Räume durchmessen, um miteinander zu reden, wovon er sich ausgeschlossen, worauf er sich noch nicht eingestimmt fühlte, und das verwirrte ihn ein ganz klein bißchen.
    Nur daß ihr Kelvinator gar nicht weiß war, klar. Jedenfalls nicht auf der Außenseite. Er war kameenrosa und sonnenuntergangsperlmutt.
    Er schaute hinein. Er sah die neun schrägstehenden Parfaitgläser, und ihm wurde leicht schwindlig. Manchmal verlor er bei den schrägen Jell-O-Desserts die Orientierung. Als wäre eine Science-fiction-Macht ins Haus eingedrungen und hätte einige Dinge in Schieflage gebracht und andere verschont.
    Sie setzten sich zum Abendessen, und Rick schnitt die Mousse an und verteilte Portionen. Sie tranken Eistee, eine Scheibe Zitrone an den Rand jedes Glases geklemmt, eine mühelose kleine Extra-Geste, typisch Erica.
    »Na, was haste den ganzen Nachmittag so getrieben?« fragte Rick Eric. »Großer Tag für Hausaufgaben?«
    »Hey Dad. Ich hab gesehen, wie du das Auto gewachst hast.«
    »Ich weiß was. Nach dem Essen nehmen wir uns die Ferngläser und fahren zur Old Farm Road raus, mal sehen, ob wir ihn entdecken.«
    »Wen entdecken?« fragte Erica.
    »Den Babymond. Was sonst? Den Satelliten, den sie raufgeschossen haben. Soll in klaren Nächten zu sehen sein.«
    Erst in diesem Augenblick begriff Erica, warum ihr der Tag so überschattet und ominös verhängnisvoll vorgekommen war, seit sie die Augen aufgeschlagen und die mikadogelben Wände mit dem patinagrün aufgerauhten Schimmer betrachtet hatte. Genau, dieser Satellit, den sie vor ein paar Tagen auf die Umlaufbahn geschickt hatten. Rick entwickelte ein wissenschaftliches Interesse daran und wünschte sich dasselbe

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