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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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krankhaft liebte, den Bruegel mit seiner Todeslandschaft. (Edgar hatte Postkarten, Zeitschriftenseiten, gerahmte Reproduktionen und vergrößerte Ausschnitte in seinem Hobbykeller gelagert und aufgehängt. Und er hatte Clyde angewiesen, mit den Dienststellen in Madrid über das unbezahlbare Original zu verhandeln und wie er es erwerben könnte, als Geschenk an das amerikanische Volk von einer spanischen Nation, die für den Schutzschild der bewaffneten US-Macht dankbar war. Doch dann, Anfang dieses Jahres, stießen eine B-52 und ein Tankflugzeug bei einem Routine-Auftanken zusammen, und vier Wasserstoffbomben fielen auf die spanische Küste herunter, wobei radioaktive Materialien freigesetzt wurden, und Clyde mußte alle Gespräche deaktivieren.) Nein, nicht den Bruegel. Die nonnenhafte Frau erinnerte ihn, von allen Dingen und Menschen, ausgerechnet an den schicken, kranken, hochgeputschten Komiker – Lenny Bruce. Nein, Lenny Bruce war kein Gast auf dem Black & White Ball. Lenny Bruce war tot. Vor einigen Monaten gestorben, in seinem Haus in Los Angeles, an akuter Morphiumvergiftung, nackt am Boden in seiner Toilette, mit starren Gliedern, Schleim aus der Nase hängend, die glasigen Augen weit aufgerissen, die Spritze noch im Arm.
    Ein 20x25-Polizeifoto des aufgetriebenen Körpers – das Bild hätte auch Der Triumph des Todes heißen können – befand sich in den persönlichen Akten des Direktors. Warum? Der Horror, der Schauder, das Höllengefühl religiöser Vergeltung wie im Mittelalter. Und nur wenige Stunden, nachdem die Leiche gefunden worden war, machte ein Gerücht an den üblichen Orten die Runde. Aufgepaßt. Lenny ist von finsteren Kräften aus der Regierung umgebracht worden.
    Lynda Bird Johnson tanzte mit einem Geheimagenten vorbei.
    Das Gerede hatte Clyde nicht überrascht. Er konnte den paranoiden Mundgeruch des Jahrzehnts riechen. Und plötzlich fragte er sich, was für eine Frau er da im Arm hielt. Hatte er sich ihr auf der Tanzfläche genähert, oder war sie ihm raffiniert in den Weg getreten?
    Ein Mann mit Skelettmaske und eine Frau in Mönchskutte. Da standen sie am Rand der Bühne.
    »Sie kennen meinen Namen«, sagte Clyde. »Aber ich muß leider passen.«
    »Was nicht sehr oft vorkommt, wie? Dabei dachte ich, die Regeln verlangten eher Geheimhaltung.«
    Sie tanzten zu Musicalmelodien aus den Vierzigern. Sie drückte sich etwas näher an ihn und schien rhythmisch in sein Ohr zu atmen.
    »Haben Sie jemals so viele Menschen gesehen«, wisperte sie, »die sich an einem Ort versammelt haben, nur um miteinander reich, mächtig und widerwärtig zu sein? Wir brauchen uns nur umzuschauen«, wisperte sie, »und sehen die Manager, die Modefotografen, die Regierungsbeamten, die Industriellen, die Schriftsteller, die Bankiers, die Akademiker, die schweinsgesichtigen Adligen im Exil, und wir erkennen die Seele des einen an dem bitteren, faltigen Körper des anderen, und alle erkennen wir dann an der Seele des einen. Denn sie gehören alle zu demselben beschissenen Ding«, wisperte sie, »finden Sie nicht?«
    Na, bei der blieb ihm aber die Spucke weg, wer auch immer sie war.
    »Dasselbe Ding. Was für ein Ding?« fragte er.
    »Der Staat, die Nation, der Konzern, die Machtstruktur, das System, das Establishment.«
    So jung, so wendig und so platt. Er spürte, wie die elektrische Spannung ihrer Schenkel und Brüste durch seinen Anzug drang.
    »Wenn Sie mich küssen«, sagte sie, »stecke ich Ihnen die Zunge so tief in den Hals.«
    »Ja.«
    »Daß sie Ihr Herz durchbohrt.«
    Und dann geschah alles auf einmal. Gestalten mit Rabengesichtern und Schädelmasken. Gestalten in weißen Leichentüchern. Mönche, Nonnen, Henker. Und natürlich begriff er, daß die Frau in seinen Armen eine von ihnen war.
    Sie bildeten eine Todeslinie auf der Tanzfläche, unterbrachen die Musik und schickten die Gäste an den Rand. Sie kontrollierten den Saal, ein Maskenspiel stummer Figuren, eine Heimsuchung, ein Sprühregen von Krankheitserregern, und Clyde sah sich nach Edgar um.
    Die Frau schlüpfte davon. Dann marschierten die Gestalten übers Parkett, drapiert, maskiert, verhüllt und mönchskuttig. Wie hatten sie sich so geschickt versammeln können? Wie waren sie überhaupt in den Ballsaal gekommen?
    Er schaute sich nach dem alten Edgar um.
    Eine Nonne und ein Henker tanzten einen Pas de deux, eine Runde einfacher Schritte im Kreis, und peu à peu schlossen sich die anderen an, die Knochenmänner und Rabenfrauen, und am Ende war

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