Unterwelt
welchen Umständen, dann würden sie plötzlich, all jene Elemente, die seine unkontrollierte Macht verachteten – sie würden ihr Mißtrauen umkehren und Gerüchte in Gang setzen, daß der Direktor selbst das Opfer eines krummen Mordes geworden war, den eine unbekannte Partei im weitgespannten, vielschichtigen Gewebe des Staates geplant und ausgeführt hatte.
Und so würde der Chef endlich ein wenig Sympathie erregen, ein alter Mann, ausgeschaltet durch ein komplexes, so zweckorientiertes und trügerisches Intrigenspiel, daß man es weit und breit bewunderte, obwohl man es nur halb glaubte. Clyde selbst war schon darauf vorbereitet, es halb zu glauben.
Edgar tot, um Gottes willen, erst in zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren, frühestens.
Vielleicht waren dann auch die Sixties vorüber.
Die Frau mit der protzigen Maske sagte: »Glauben Sie, die warten draußen, diese Fieslinge, und wollen mich wieder zu Tode erschrecken?«
Ihr Mann sagte: »Es ist gleich vier Uhr früh. Die müssen auch mal schlafen.«
Um vier Uhr früh warteten sie draußen. Clyde und Edgar beobachteten sie vom Foyer aus. Die letzten Partygänger stolperten nach draußen, und die Protestler grölten und sangen, trugen wieder ihre Kindermasken.
Eine Stunde später war es endlich vorbei. Edgar und Clyde gingen durch den Haupteingang zum Cadillac hinunter, während der verbrauchte Müll eines Tages und einer Nacht in dieser großen Küstenstadt durch die Straßen windschlitterte.
Die gepanzerte Limousine rollte langsam zum Waldorf zurück.
Ja, der Direktor würde endlich ein wenig Sympathie bei denselben Leuten erregen, die über sie beide Witze rissen. Schlüpfrige, zischelnde Witze. Aber Edgar und Clyde waren kein altes, vor sich hin brabbelndes Tuntenpaar. Sie waren Männer von souveräner Autorität. Und Edgar hatte nicht die Absicht, auf Erden jemals die Kontrolle aus der Hand zu geben.
Clyde entdeckte den Käfer.
Er warf einen Blick auf Edgar, der stumm und schmollend in seiner Ziermünzenmaske dasaß. Er hatte die Maske seit dem Abendessen ununterbrochen aufgehabt. Hart, kalt, lakonisch, mit all der verborgenen Wut einer unstillbaren Qual trug er die Ledermaske, weil sie ihm, und sei es nur kurz, die Bürde der Kontrolle erleichterte.
Und als Clyde den Käfer entdeckte, den lumpigen kleinen Volkswagen mit seinen leuchtenden Krakeln und Wirbeln, da beschloß er, Edgar nichts zu sagen. Das Auto fuhr dreißig Meter hinter ihnen, ein neonfarbener Kakerlak, langsam, schlaflos und anhänglich.
Er sagte dem Chef nichts, denn der Abend war voller Schock und Bedrängnis gewesen, und er wollte diesen letzten unheilvollen Moment allein abfangen. Schließlich war er doch Junior, jetzt und für immer, willig und notwendig, ganz gleich wie müde und genarrt, der Lebensgefährte und getreue zweite Mann.
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5
25. OKTOBER 1962
E s war Donnerstag. Zum ersten Mal hatten sie die volle Wucht der Gefahr am Montagabend verspürt, als der Präsident in Radio und Fernsehen eine Ansprache ans Volk hielt. Am Dienstag wurde gesagt, sowjetische Schiffe seien mit Raketen und Sprengköpfen unterwegs nach Kuba, um die Anzahl der bereits auf der Insel befindlichen Waffen aufzustocken. Mittwoch war angespannt. Am Mittwoch kam heraus, daß unsere Seeblockade in Kraft getreten war und daß sich vierzehn sowjetische Schiffe der Quarantänelinie näherten.
Jetzt war Donnerstag. Am Donnerstag abend, während strategische Langstreckenbomber mit thermonuklearen Waffen über dem Mittelmeer kreisten oder arktische Routen über Grönland flogen oder an den Westgrenzen Nordamerikas entlangschnürten, fuhren die Menschen mit eingeschaltetem Radio oder der aufgeschlagenen Zeitung vor der Nase von der Arbeit nach Hause.
Und während die Dunkelheit aus dem weiten, erhabenen Himmel über dem See herabsank, langsam immer tiefer in den Abend hinein, kamen die Nachtmenschen heraus, schlüpften an den Bars und halbseidenen Clubs vorbei, mischten sich unter die Touristen und Kongreßteilnehmer, die mal gucken wollten, was so los war. In den abseitigen Straßen wichen sie Taxis auf Beutezug aus, umschifften den Markt des gewerbsmäßigen Lasters und bahnten sich ihren Weg in die Rush Street, wo Mister Kelly's lag, ein renommierter Saal in Chicagos spritziger Nacht.
Lenny Bruce kam aus der Garderobe im ersten Stock runtergeschlappt, tappte etwas trüben Blicks durch die Küche und die Schwingtür und war von dort aus mit einem Schlängelschritt auf der Bühne.
Ein Kellner mit
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