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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Albert setzte sich auf, griff dem Mädchen unter die Arme, hielt es aufrecht, die Füße in den weißen Söckchen berührten fast das Wasser, so daß es auf der Oberfläche gehen konnte, lachend, mit kleinen Trittwellen. Und er fühlte sich wie eine Robbenmama, jawohl, eine Mutter, nicht irgendein heiser hustender Bulle oder wie immer die Männchen heißen – das mußte er mal nachschlagen.
    »Kennst du das alte Bild«, sagte er, »auf dem Dutzende von Kindern zu sehen sind, die auf irgendeinem Marktplatz spielen?«
    »Es sind sogar Hunderte. Zweihundert mindestens. Bruegel. Ich finde es ungesund. Warum?«
    »Nur so, wir haben davon gesprochen.«
    »Ich weiß nicht, was die Kunstgeschichte über dieses Bild sagt. Ich kann nur sagen, es ist nicht so verschieden von dem anderen berühmten Bruegel, Armeen von Toten, die durch die Landschaft marschieren. Ich finde die Kinder fett, zurückgeblieben, ein bißchen finster. Wie eine Drohung, ein Irrsinn. Kinderspiele. Sie sehen aus wie Zwerge, die etwas Gräßliches tun.«
    Er hielt die strampelnde Kleine knapp über die Wasseroberfläche, dann ließ er sie eine Spur tiefer sinken, damit sie planschen konnte, und lachte, als ihm der Schaum ins Gesicht spritzte.
    »Fett und zurückgeblieben. Hast du das gehört, kleines Mädchen? Tatsächlich, sie wird langsam ziemlich schwer, was ? Puh. Nicht wahr, mein Schätzchen?«
    Früher oder später die tägliche Litanei heikler Fragen und knapper Antworten.
    »Und meine Mutter?«
    »Ruht sich aus.«
    »Und der Arzt war da?«
    »Nein.«
    »Der Arzt war nicht da?«
    »Nein.«
    »Wann kommt er denn?«
    »Morgen.«
    »Morgen. Und Mrs Ketchel hat reingeschaut?«
    »Reingeschaut, genau.«
    Die Kleine lief über das Wasser, und er hob sie hoch, damit Klara sie wieder nehmen konnte. Sie schwang sie über das Ende der Wanne und schaffte es, daß die nassen Söckchen ungefähr eine Sekunde nach der Landung ausgezogen waren. Einer jener tödlichen Kämpfe zwischen Mutter und Kind, tausendmal am Tag. Heulen und gekrümmte Glieder und eine gewisse körperliche Beharrlichkeit bei der Frau. Alles in einem Rutsch erledigt, kurz und bündig, und Albert war so verblüfft, daß er sich über den Rand beugte, um die zwei winzigen Söckchen zu erspähen, die triefend auf den Fliesen lagen, zur Bestätigung.
    Seine Mutter litt an einer neuromuskulären Schwäche, Myasthenia gravis, und die meiste Zeit lag sie hilflos da, mit hängenden Augenlidern, die Arme zu schwach, um sie zu rühren, außer in immer langsameren Silben der Bewegung, inzwischen auf einzelne Einheiten reduziert, und ganz offenkundig sah sie alles doppelt.
    Er sagte das Wort ein letztes Mal für die Kleine auf, während sie hinausgedrängt wurde.
    Er hatte seine Mutter hergebracht, sich gegen ihren Fatalismus wie auch die praktische Skepsis seiner Frau durchgesetzt. Du bist der Sohn, du kümmerst dich um die Eltern. Und die Krankheit, das Drama eines versagenden Körpers, und wie heilig der drohende Tod sie erscheinen ließ, von der Unerschütterlichkeit einer Ikone, eine strenge, starrende, emaillierte Schönheit. Albert, der vor jeder Form organisierter Verehrung zurückschreckte und Gott für eine Täuschung der Massen hielt, saß da und betrachtete sie stundenlang, kämmte ihr Haar, wischte ihren Durchfall mit Kleenexpacken weg, sprach in seinem kindlichen Italienisch zu ihr, und er hatte das Gefühl, das Haus und die Wohnung seien getränkt von Ehrerbietung, alt, traurig, schwer und beeindruckend – von Jenseitigkeit, nun, da die Mutter hier war.
    Das Badesalz sprudelte inzwischen nicht mehr, und er lag eine Zeitlang still da. Er spürte, wie seine Zufriedenheit sich verflüchtigte. Vielleicht hatte die Abendstunde etwas an sich, das eine vorübergehende Traurigkeit hervorrief. Er hörte Klara, die in der Küche das Abendessen vorbereitete. Da gab es einige Dinge, die er auf Abstand halten mußte. Ihre Launen, ihre Zweifel. Er dachte über seine eigene Situation nach. Dinge, denen er sich stellen mußte. Seine Selbstgefälligkeit, seine Zerstreutheit, seine Stellung an der Schule, sein klammheimliches Trinken.
    Als es endlich kam, kam es plötzlich. Mandarine. Wie er am Nachmittag auf dem Markt gestanden hatte und die Frucht mit der losen Schale gepellt, die süßen Schnitze gegessen hatte, etwas beißend, als der Saft durch seinen Mund rann, und wie der Duft von irgendeiner Essenz geschwängert schien, aber warum nur, einer Essenz Chinas. Und jetzt wußte er es, unbestreitbar.

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