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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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hatte. Sie hatten die Schöpfung und den Sündenfall durchgenommen, Lektion Fünf im Baltimore-Katechismus, und die Schwester zeigte gerade auf ein Bild im Buch, wo ein Mann und eine Frau mehr oder weniger unbekleidet unter einem Apfelbaum standen, auf dem sich eine Schlange auf einem Ast zusammengerollt hatte, und die Schwester rief Michael Kalenka auf und sagte, er solle den Mann und die Frau benennen, das war die einfachste Frage, die sie je gestellt hatte, und Michael Kalenka stand auf und schaute sich das Bild an, und er dachte nach und schaute und dachte nach, und die Schwester sagte, »Unser aller Ur-Eltern«, und Michael Kalenka dachte nach und grinste und sagte, »Tarzan und Jane«.
    Die Schwester stürzte sich auf Michael Kalenka und packte ihn in die Falten ihres Gewands. Er war praktisch nicht zu sehen, bis er plötzlich, Kopf vorneweg, an die Tafel geschleudert wurde. Der Aufprall war heftig und wahrhaftig. Das Geräusch, ein dumpfer Schlag und das darauffolgende Summen, weil die ganze Platte vibrierte, das Geräusch war so real, daß die Jungen und Mädchen sich auf ihren Plätzen duckten, großäugig und halbflüssig. Aus ihrer steifen Haltung herausgepustet. Und Michael Kalenka stand da, ein verblüffter Hampelmann, einfältig, schuldig, grinsend, aber vor allem verblüfft und schlapparmig und in sich zusammengesackt.
    Die Schwester stellte Fragen aus dem Katechismus, und sie antworteten im Chor. Matty machte das gerne. Die aufgegebenen Fragen zu hören und die richtigen Antworten aufzusagen war der beste Teil des Schultages.
    Die Schwester konnte den Katechismus auswendig, und Matty konnte die Lektion eines jeden Tages auswendig, weil er jetzt mehr Zeit für die Hausaufgaben hatte und Schwester Edgar insgeheim respektierte, die an der ganzen Schule als Schwester Totenschädel bekannt war, weil ihr Gesicht so scharf geschnitten und ihre Haut so bleich war und ihre schmalen Hände allzeit bereit zu strenger Berührung schienen, zu einem kalten, knochigen Klaps, nach dem du für immer es bist.
    Ihm gefiel, wie die Antwort auf jede Frage die Frage wiederholte, bevor die eigentliche Antwort kam.
    Die Schwester sagte: »Was meinen wir, wenn wir sagen, daß Christus von dannen kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten?«
    Die Klasse antwortete einstimmig: »Wenn wir sagen, daß Christus von dannen kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten, so meinen wir, daß am Jüngsten Tag der Herr kommen wird, um jeden zu richten, der je auf dieser Welt gelebt hat.«
    Dann befahl ihnen Schwester Edgar, ihre Hundemarken nach außen auf die Hemden und Blusen zu hängen, damit sie sie sehen konnte. Sie wollte überprüfen, ob auch jeder seine Hundemarke trug. Die Marken hatten den Zweck, Rettungsarbeitern bei der Identifikation von Kindern zu helfen, die verirrt, vermißt, verletzt, verkrüppelt, verstümmelt, bewußtlos oder tot waren, und zwar während der Stunden, die auf den Ausbruch des Atomkrieges folgten.
    Die Schwester ging zwischen den Bänken auf und ab, bückte sich, um jede Marke zu lesen. Aus der Nähe roch sie gewaschen und gestärkt, dampfgebügelt, und ihre Fingernägel waren zu einem glasigen Lavaglanz poliert, und der Rosenkranz, der von ihrem Gürtel hing wie die lange Schlüsselkette eines Stutzers, blitzte hell auf, und wenn sie näher und tiefer heranraschelte, roch sie privater, nach Zahnpulver und Reinigungsmitteln und zur Kasteiung gescheuerter Haut.
    Sie sagte: »Wehe dem Kind, das keine Marke trägt oder das die Marke eines anderen trägt.«
    Es war nämlich schon vorgekommen, in anderen Klassen, daß ein Junge und ein Mädchen ihre Marken vertauscht hatten, um eine Art atomarer Zärtlichkeit auszudrücken.
    Als Schwester Edgar mit ihrer Inspektion fertig war, sagte sie nichts – was die Klasse überraschte. Die Schüler erwarteten den Drill, den Alles-in-Deckung-Drill, den sie geprobt hatten, bevor die Marken eingetroffen waren . J etzt, da sie die Marken hatten und ihre Namen auf dem dünnen Blech standen, war der Drill keine fernliegende Übung mehr, sondern umgab sie überall, genau wie der Atomkrieg.
    Statt dessen kehrte sie zum Katechismus zurück, zu Fragen und Antworten, bis Annette Esposito, eine Achtkläßlerin, mit einer Nachricht vom Direktor hereinkam. Die Schwester las die Nachricht und schaute Annette Esposito an und sagte, »Und die da, was ist das?«
    Zuerst wußte keiner, was sie meinte. Dann begriff die Klasse, daß sie Annette Espositos Brust betrachtete,

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