Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
Vom Netzwerk:
sich hin und machte sich bereit, ihm einen Faustschlag zu verpassen. Er wußte, daß das nicht nötig gewesen wäre, aber er hatte den Kerl bislang nur im Gesicht gestreift, und er wollte ihn anständig treffen. Diese Chance, jemanden anständig zu treffen, wollte er sich nicht entgehen lassen. Er boxte ihn unters Auge, ein kurzer Haken, und der Kerl taumelte auf den Hintern, Hände vors Gesicht geschlagen, und Nick fühlte sich gleich besser.
    JuJu kam vom Spielplatz herüber und pulte ein Stück gefrorene Hundescheiße aus dem Schnee. Er trug keine Handschuhe. Er hob es auf und matschte es dem Kerl auf den Kopf, ins Haar und in die Ohren.
    Er sagte: »Da, stronzo, das ist für dich.«
    Dann wusch er sich im Schnee die Hände, und sie gingen zu Mike rüber, auf eine Partie Pool.
    Matty band sich die blaue Krawatte um. Die katholischen Schuljungen trugen weiße Hemden und blaue Krawatten. Lange hatte seine Mutter ihm die Krawatte binden müssen. Und er hatte es nie hingekriegt, sich die Jacke anzuziehen, konnte sie nicht so halten, daß ein bestimmter Arm in ein bestimmtes Ärmelloch reinging, und manchmal hatte er die Jacke flach auf den Boden legen, sich davorsetzen und dann pro Loch einen Arm einpassen müssen, als würde er sich rückwärts in die Jacke hineinlegen.
    Rat mal, was Nicky zu diesem Spektakel sagte.
    Aber darüber war er jetzt hinweg. Er war so ziemlich über die Wutanfälle hinweg und das Schweigen, mit dem er seine Mutter behandelte, wenn er wütend auf sie war, und manchmal hatte er die Badezimmertür abgeschlossen und versucht, sich mit dem Duschvorhang zu ersticken.
    Er war über die Wutanfälle hinweg, weil er nicht mehr Schach spielte. Mr Bronzini nannte das ein Sabbatjahr. Das war so eins von seinen Wörtern, die buchstabiert, erklärt und ausgeführt werden mußten. Matty hatte ein eigenes Wort dafür. Krank.
    Er konnte das Verlieren nicht ertragen. Es war zu schrecklich. Es machte ihn körperlich schwach und unglaublich wütend. Es schickte ihn durch die Wohnung, taumelnd, Arme wie Windmühlenflügel. Sein Bruder kloppte ihm auf den Kopf, was ihn noch wilder machte. Er war nicht groß und schwer genug, um die ganze Wut in sich zu halten. Er war über den Punkt des Weinens hinaus. Wenn er verlor, fing er am ganzen Körper an zu zittern. Er japste nach Luft. Er begriff nicht, warum jemand, der so klein, jung und unvorbereitet war, diesem rasenden Moloch namens Verlieren im Weg stehen, nein, kauern mußte.
    Er band sich die Krawatte um und ging zur Schule. Zuerst hängte er sich seine neue Hundemarke um, für den Atomangriff, auf der Scheibe standen sein Name und seine Schule, dann band er sich die blaue Krawatte um und ging die fünf Straßen zur Schule.
    Matty saß in der Reihe neben dem Garderobenraum und war einer von drei Schülern, die zu bestimmten Zeiten die Schiebetüren der Garderobe zu öffnen und zu schließen hatten. Sie arbeiteten gemeinsam, wwsch und boing. Das war ihre Aufgabe.
    Catherine Conway hatte die Aufgabe, jeden Freitag die Tafellappen auszuklopfen, an der Hintertür, die zum Schulhof führte, und ihre Augen brannten vom Kreidestaub.
    Richard Stasiak hatte die Aufgabe, die Fenster zu öffnen und zu schließen. Er nahm die Fensterstange mit dem Haken am einen Ende und führte den Haken in die Öse oben am Fenster, und dann drückte oder zog er. Richard Stasiak war groß und breit, und dies war die logische Aufgabe für ihn.
    Sie saßen hinter ihren Tischen, vierzig Jungen und Mädchen, sechste Klasse, an diesem trüben grauen Tag, aufrecht, Füße geschlossen, Augen geradeaus auf Schwester Edgar.
    Die Schwester tigerte zwischen ihrem Pult und der Tafel auf und ab, ein Rascheln aus einfarbiger Baumwolle, und die geschrubbten Hände blitzten. Sie deklamierte Fragen aus dem Baltimore-Katechismus, und ihre Schüler antworteten mit einer einzigen, glasklaren Stimme.
    Matty glaubte an den Baltimore-Katechismus, der alle Fragen und alle Antworten enthielt, und er enthielt Liebe, Haß, Verdammnis und das Waschen von anderer Leute Füße, er enthielt Peitschen, Dornen und Wiederauferstehungen, er enthielt Engel, Schäfer, Diebe und Juden, er enthielt Hosianna in der Höhe.
    Er wußte nicht, was das bedeutete, Hosianna in der Höhe, und er hatte Angst zu fragen. Sie hatten alle Angst. Sie hatten seit einer Woche Angst, genau seit dem Augenblick, als die Schwester Michael Kalenkas Kopf gegen die Tafel geknallt hatte, weil er eine freche Antwort auf eine einfache Frage gegeben

Weitere Kostenlose Bücher