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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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wir landen«, sagt er.
    Ich betrachte ihn eingehend. Es ist kalt, und wir sind todmüde, und ich betrachte Brian. Zu wissen, was er getan hat, der kalkulierte Vertrauensbruch – ich will wach bleiben, während er schläft, damit ich ihn beobachten und meine Gefühle scharf feilen und daraufwarten kann, daß meine Stunde kommt.
    Viktor nimmt eine Flasche Chivas Regal aus seiner Reisetasche. Ich mime höflichen Applaus. Er geht ins Cockpit, um ein paar Gläser zu holen, aber die haben keine oder wollen keine abgeben. Ich wühle meine Tasche durch und finde eine Flasche Mundwasser, schraube den Deckel ab und schüttele das gerillte Plastikteil heraus, während ich durchs Flugzeug wanke. Viktor gießt etwas Scotch in den Deckel, und ich kehre auf meinen Platz zurück.
    Wir haben keine Anschnallgurte, und der Flug wird unruhiger. Ich habe die Flasche Mundwasser aufrecht in meine Tasche gekeilt, damit das Zeug nicht ausläuft. Wir sind allein, wir drei, abgesehen von dem, der das Flugzeug fliegt, vielleicht sind es auch mehrere, und ich glaube, wir fühlen uns ein bißchen verloren in dem riesigen Röhrenraum, mehr wie Leute in einem heruntergekommenen Terminal spätnachts, nicht wie glückliche Reisende an Bord ihres Flugzeugs. Ich trinke meinen Chivas aus dem Deckel, horche auf die rappelnde Konstruktion um uns herum, mit ihrer Minimalverstrebung, ein Innenskelettbogen, der jedes Ächzen aus dem Gesangbuch des bemannten Fliegens von sich gibt. Der Scotch schmeckt schwach nach Gurgelpfefferminz.
    »Was haben Sie gemacht, bevor Sie zu Tschaika gegangen sind?«
    »Ich lehre Geschichte zwanzig Jahre. Dann nicht mehr. Ich suche neues Leben.«
    »Es gibt jetzt in vielen amerikanischen Städten Männer wie Sie. Russen, Ukrainer. Wissen Sie, was die tun?«
    »Fahren Taxi«, sagt er.
    Mir fällt auf, wie seine Augen zucken, um meinen Blick aufzufangen, gerissen, ein kurzer gemeinsamer Augenblick, der ihm erlaubt, mir seinen überlegenen Status zu vermitteln.
    Er trinkt aus der Flasche.
    Ich sehe das Flugzeug am Himmel wie von einer geschützten Position aus. Es ist eine flüchtige Erscheinung, die durch die Dunkelheit zischt – ich war mir sicher, daß es inzwischen dunkel war. Eine Masse aus dunklem Metall, die durch Regen und Wind rast, wie in einer schnellen Szene aus einem alten Schwarzweißfilm, mit drängender Musik unterlegt.
    Viktor fragt mich, ob ich jemals eine Atomexplosion miterlebt habe. Nein. Es ist interessant, sagt er, wie Waffen die Seele ihres Erbauers widerspiegeln. Die Sowjets wollten eine immer größere Sprengkraft, größere Mengen radioaktiven Materials. Sie mußten sich selbst davon überzeugen, daß sie eine Supermacht waren. Abwurfgewicht. Was ist Abwurfgewicht? Wir wissen es nicht genau, aber wir sind uns einig, daß es nach geballter Masse klingt, nach dem geballten Willen des Kollektivs. Die sowjetischen Langstreckenraketen hatten ein größeres Abwurfgewicht. Sie mußten sich mit Zahlen und Gewicht und Masse von sich selbst überzeugen. »Und die USA?« sage ich.
    Die Augen zuckten in meine Richtung, glücklich wie Partylampions. Die USA, sagt Viktor, haben schließlich die Neutronenbombe entwickelt. Viele summende Neutronen, sehr geringe Explosion. Das perfekte kapitalistische Werkzeug. Killt die Oma, schont das Häuschen.
    Ich betrachte den schlafenden Brian.
    »Jetzt haben Sie Ihre eigenen kapitalistischen Werkzeuge. Nicht wahr, Viktor?«
    »Sie meinen meine Firma?«
    »Eine kleine Privatarmee, hört man.«
    »Auch Nachrichtendienst. Um zu schützen unsere Besitz.«
    »Und die Konkurrenz zu Tode zu erschrecken.«
    Er erzählt mir, daß der Name der Firma seine Idee war. Tschaika bedeutet Möwe und bezieht sich poetisch auf die Tatsache, daß sie ihr Hauptgeschäft mit Müll machen. Er mag es, wie Möwen auf Müllberge herabstoßen und hinter Schiffen herfliegen, auf der Lauer, daß am Bug etwas glitzernd über Bord geht. Außerdem ist es ein netterer Name als Ratte oder Schwein.
    Ich betrachte Brian. Das ist besser als Schlafen. Ich will nicht schlafen, bevor ich nicht mit dem Betrachten fertig bin. Die Reise mit diesem Mann von Arizona nach Rußland, Seite an Seite durch all die Zeitzonen, wir teilten Zeitschriften und tauschten Essen aus den kleinen, versiegelten Behältnissen, mein Dessert gegen seine Radieschen, weil ich fit bin und er nicht, von Sky Harbor bis Scheremetjewo, all die Stunden und Meere und Regionen von parzelliertem Land, die Häuser und die Leben unter uns – vielleicht

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