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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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fühlen.«
    »Warum so viele leere Plätze bei dem wichtigsten Spiel des Jahres ?«
    »Vieler Jahre«, sagte Marvin. »Vieler Jahre.«
    »Weil bestimmte Ereignisse mit unbewußter Angst zusammenhängen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß die Leute eine Katastrophe gewittert haben. Nicht wer das Spiel gewinnen oder verlieren würde. Sondern die Angst, da kommt eine furchtbare Kraft und unterminiert – wie heißt das Wort?«
    »Unterminiert.«
    »Unterminiert. Und unterminiert die ganze Sache mit dem Spiel. Sie müssen bedenken, daß während der ganzen fünfziger Jahre die Menschen immer drinnen geblieben sind. Wir gingen bloß nach draußen, um uns ins Auto zu setzen. In den öffentlichen Parkanlagen waren nicht so viele Leute wie später. Ein Museum, das waren leere Räume mit Ritterrüstungen und alle sieben Jahrhunderte ein schläfriger Wächter.«
    »Mit anderen Worten.«
    »Mit anderen Worten, es gab eine verborgene Mentalität des Zuhausebleibens. Weil eine Drohung in der Luft lag.«
    »Und Sie meinen, die Leute hatten an diesem bestimmten Tag eine Vorahnung.«
    »Als hätten sie es gewußt. Sie spürten, daß es zwischen diesem Spiel und irgendeinem erschütternden Ereignis, das womöglich auf der anderen Seite der Welt stattfand, eine Verbindung gab.«
    »Diesem bestimmten Spiel.«
    »Ja, nicht dem am Tag davor und nicht dem am Tag danach. Denn dies war ein Spiel um alles oder nichts zwischen den beiden Haßrivalen der Stadt. Die Leute hatten ein Vorgefühl, daß dieses Spiel in einem viel größeren Zusammenhang stand. Da wurde die Überlegung angestellt, Will ich wirklich rausgehen und mich in einer großen Menschenmenge aufhalten, was im Fall der Fälle der denkbar schlimmste Aufenthaltsort ist, oder bleibe ich lieber zu Hause bei meiner Familie und meinem nagelneuen Fernseher, wo der gesunde Menschenverstand ja dazu sagt, in einer Truhe mit Ahornfurnier.«
    Zu seiner Überraschung lehnte Brian diese Theorie nicht ab. Er glaubte nicht unbedingt daran, aber er tat sie auch nicht ab. Er glaubte vorläufig daran, hier in diesem Zimmer im Untergeschoß eines Holzhauses an einem Wochennachmittag in Cliffside Park, Newjersey. Sie war von poetischer Wahrheit, als sie aus Marvin Lundys Mund kam und Brians Gehörgang erreichte, von einer unbeweisbaren, weit hergeholten und unzulässigen, aber nicht vollkommen unhistorischen Wahrheit und nicht ganz ohne authentischen inneren Erzählfluß.
    Marvin sagte: »Weil was an der ganzen Sache nämlich interessant ist, wenn eine Atombombe hergestellt wird, jetzt kommt's, dann ist der radioaktive Kern exakt genauso groß wie ein Baseball.«
    »Ich dachte immer, wie eine Grapefruit.«
    »Wie ein vorschriftsmäßiger Oberliga-Baseball, nicht unter dreiundzwanzig Zentimetern Umfang, so steht es in den Regeln.«
    Er schlug die Beine übereinander, steckte einen Finger ins Ohr und popelte an einem Jucken herum. Marvin hatte riesige Ohren.
    Zum erstenmal wurde Brian bewußt, daß irgendwo im Haus Musik lief. Vielleicht hatte er sie schon die ganze Zeit gehört, am eingeschliffenen Rand der Wahrnehmung, Musik, die mit dem Raumton verschmolz, den Flugzeugen, die in Newark einschwebten, dem schwachen Heulen des vorbeischießenden Verkehrs auf den Schnellstraßen da draußen – ein verhaltener Kummer, Klaviermusik, alt und zart, eine gepreßte Rose, in einem Buch verblaßt.
    »Die Menschen spüren unsichtbare Dinge. Nur wenn einem etwas geradezu ins Gesicht springt, dann übersieht man es völlig.«
    »Was meinen Sie?« fragte Brian.
    »Dieser Gorbatschow, der mit so'nem Ding auf dem Kopf rumläuft. Ist das ein Muttermal, was er da hat?«
    »Ich glaube ja.«
    »Es ist groß. Da stimmen Sie mir doch zu?«
    »Ja, ziemlich groß.«
    »Auffällig. Man kann nicht anders, es fällt einem auf. Hab ich recht?«
    »Allerdings.«
    »Und Sie stimmen mir auch zu, daß Tag für Tag Millionen Menschen dieses Ding in der Zeitung sehen?«
    »Ja.«
    »Sie schlagen die Zeitung auf, und da ist der Kopf des Mannes mit diesem erstaunlichen Mal oben auf der Platte. Stimmt's?«
    »Ja, sicher.«
    »Was bedeutet das?« fragte Marvin. »Warum sollte es was bedeuten?«
    »Sie nehmen es also eins zu eins.«
    »Weil es eins ist«, sagte Brian. »Sein Gesicht, sein Kopf. Ein Flecken, ein Muttermal.«
    »Ich sehe da was anderes.«
    »Was denn?«
    »Sie haben gefragt, also sag ich's Ihnen.«
    Marvin sah darin das erste Anzeichen für den völligen Zusammenbruch des Sowjetsystems. Dem Mann auf die Stirn

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