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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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gespielt hatte und es heute vermißte. Sie vermißte es, vom Gartenschlauch zu trinken. Sie vermißte ihre Mutter und ihren Vater mehr denn je, sie waren jetzt seit neun und sechs Jahren tot und mittlerweile stärkere Kräfte in ihrem Leben, so sehr gegenwärtig, daß Marian voll und ganz begreifen konnte, warum Leute Gespenster sehen und mit den Toten sprechen. Sie hatte einen Gartenschlauch, aber sie trank nicht davon, und sie erlaubte es auch ihren Kindern nicht, und das war der Unterschied, weniger mit den verlorenen Dingen verbunden als mit dem Wissen, das mißtrauisch und wachsam geworden war. Sie erzählte ihm, daß sie das Rauchen vermißte, obwohl sie es noch nicht geschafft hatte, damit aufzuhören.
    Nach dem Essen gingen sie eine Treppe hoch in die Eingangshalle, und im Geist ging sie immer höher, bis zu einem schattigen Raum am Ende eines langen, leeren Flurs, und sah sich die Tagesdecke zurückschlagen und über die kühlen Laken gebeugt dastehen und auf ein Klopfen an der Tür warten. Dann hörten sie klagende Fistelstimmen aus den Lautsprechern auf dem Rasen vorm Gerichtsgebäude und gingen nach unten zu den Autos in der wohligen Hitze.
    Brian verfiel in körperliche Verzückung, als er einen Chevrolet in Limettensorbetgrün sah, ein 1957er Bel-Air-Kabrio mit weißen Polstern. Er drapierte sich über die Motorhaube und tat so, als leckte er das heiße Metall ab. Marian dachte, das kriegen die Männer also, anstelle von Fettablagerungen auf den Oberschenkeln. Aber das Auto mußte sie bewundern, es war übermütig und flott und irgendwie sogar großartig mit seinem Chromschwung, und dann die witzige, rührende Musik, die seine Unschuld zeigte.
    Brian löste sich von der Motorhaube.
    »Hatten Sie mal so einen?«
    »Zu jung«, sagte er. »Aber mein ältester Bruder, eine Zeitlang. Brendans Bei Air. Wir sprechen noch heute mit Ehrfurcht davon. Das war der Höhepunkt seines Lebens. Das Auto bedeutete ihm alles. Mädchen, Liebe, Persönlichkeit, Macht. Es bedeutete hier und jetzt. All diese Autos hatten den sogenannten Vorwärtslook. Schlank wie Düsenjäger. Aber wie sich herausstellte, war Vorwärts nicht gleichbedeutend mit Zukunft. Es bedeutete Tu's jetzt, Genieße es, denn die Sechziger sind im Anmarsch, kawumm peng peng. Der Motor hatte ein kehliges Röhren. Damals konnten wir es noch nicht wissen, aber mit Brendan ging es seitdem bergab.«
    Sie gingen unter den Ulmen am Rand des Platzes entlang. Sein Wagen parkte vor dem alten Stadtgefängnis, in dem jetzt die Handelskammer untergebracht war. Sie verabschiedeten sich merkwürdig förmlich. Sie dachte, vielleicht hatten sie irgendwelche Schuldgefühle und mußten ihre Gesichter für die Heimfahrt vorbereiten, den inneren Aufruhr loswerden. Sie ging die Straße bis zu ihrem Auto und spürte bei jedem Schritt den flüssigen Pulsschlag der Sonne.

[Menü]
3
    B rian fuhr direkt nach Norden, auf der Suche nach einem Schild, das ihn zu der Brücke führen würde. Ein Tanker mit Klärschlamm war flußabwärts unterwegs, schmierig und tief im Wasser liegend. Brian verspürte die alte Vorahnung. Es war nicht allgemein bekannt, es war nur ganz vereinzelt bekannt, daß er jedesmal Fürchterliches durchmachte, wenn er eine Brücke überquerte. Je länger und höher die Spannbreite, desto größer sein Gefühl von atemlosen Abgründen. Und dies hier war eine große Brücke über einen breiten, historischen Wasserweg. Es war nämlich so, daß Brücken ihm das Gefühl vermittelten, er befände sich auf einem Möbiusschen Band, als hätte die Welt plötzlich nur noch eine Seite und er verlöre jeden Anspruch auf Namen, Ort, Essensgeschmack und Wochenenden mit den Schwiegereltern – hinge irgendwie ungeboren im unbestimmten Raum.
    Dann sah er sie von ferne, Stahlträger und Kabel, wie sie sich zum felsigen Ufer schwang. Er folgte den Schildern, fuhr über die Zufahrtsrampen und begann den Weg über die Brücke. Er entschied sich für die obere Ebene, weil der graue Lincoln vor ihm auch dort entlangfuhr. Lincoln und Washington, beschützt mich. Aus dem Radio dröhnten Stimmen, Publikumsanrufe, motzend und geifernd, Rapsalven von der Straße, und er stellte sich eine lange Schlange aus Underground-Seelen vor, die bei der Radioband mitmachen und die Hörernachrichten sprechen wollten. Er lauschte in feierlicher Dankbarkeit. Dieses Getöse wurde so stark, es wuchs sich zu einer Lebenskraft aus und trug den Jungen aus Ohio durch seine weiße Angst hindurch und ans Ufer von

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