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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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gebrannt. Die Umrisse von Lettland.
    Das sagte er, ohne eine Miene zu verziehen: Gorbatschow vermittele im Grunde die Nachricht, daß der UdSSR Unruhen aus den Republiken bevorstünden.
    »Sie glauben, dieses Muttermal? Moment mal.«
    »Entschuldigung, aber drehen Sie doch mal die Landkarte von Lettland um neunzig Grad nach links, so daß die Ostgrenze nach oben kommt, dann haben Sie genau den Fleck, den Gorbatschow auf dem Kopf trägt. Mit anderen Worten, wenn er nachts im Bett liegt und seine Frau ihm ein Glas Wasser und ein Aspirin bringt, dann sieht sie Lettland.«
    Brian versuchte, sich die Umrisse des rotweinfarbenen Mals auf Gorbatschows Kopf ins Gedächtnis zu rufen. Er wollte es mit der Erinnerung an Erdkundetests in Einklang bringen, damals, als seine Glieder an milden Nachmittagen vom biologischen Ansturm und der Süße des bevorstehenden Schulschlusses ein wenig schmerzten. Die alte melodische Zeile wiegenleierte wieder, Lettland, Estland, Litauen. Aber die Umrisse der Länder, die genauen Silhouetten ihrer eingebetteten Körper bekam er nicht zusammen.
    Marvin betrachtete wieder die Anzeigetafel.
    »Die Leute sammeln, sammeln, sammeln immerzu. Gibt ja Leute, die sind hinter allem her, was aus dem Deutschland des Krieges kommt. Naziana. Das sind die Großsammler, die auf die große Geschichte aus sind. Heißt das etwa, die Gegenstände in diesem Zimmer sind allesamt trivialer Kleinkram? Wie heißt das Wort, was ich gerade suche, es klingt so ähnlich wie das, was man beim Impfen in den fleischigen Teil des Arms gespritzt bekommt...«
    »Sermon.«
    »Sermon. Glauben Sie, ich falle auf jeden Sermon rein? Das ist auch Geschichte, von den hinteren Seiten. Von hinten nach vorne. Glücklich, tragisch, verzweifelt.« Marvin änderte die Blickrichtung. »In dieser Kiste hier habe ich das Sammlerstück, hinter dem ich in den letzten zweiundzwanzig Jahren immer her war.«
    Brian ahnte dunkel etwas.
    »Ich habe geforscht, ich habe gesucht, und schließlich habe ich es gefunden und gekauft, vor achtzehn Monaten, und ich stelle es nicht mal aus, ich hebe es in der Kiste auf, wo es keiner sieht.«
    Jetzt schaute Brian auf die Anzeigetafel.
    Marvin sagte grämlich: »Es ist der Ball von Bobby Thomsons Home Run, weil den habe ich nämlich die ganze Strecke zurückverfolgt, nachdem es ein paar Gerüchte in der Branche gab. Damals war es noch nicht mal eine Branche, bloß ein paar Interessenten, die eine Telefonnummer hatten oder einen Vornamen, die mickrigste Spur, aber ich bin ihr wie ein Wilder nachgegangen.«
    Er hielt inne, um sich seine Zigarre anzuzünden. Sie war alt und muffig und sah aus wie eine Sojawurst aus der Schulcafeteria. Doch Brian begriff, daß das Stammesritual eine Zigarre verlangte, auch wenn ihm der Rauch in den Augen brannte.
    Die nächsten drei Stunden erzählte Marvin von seiner Suche nach dem Baseball. Er vergaß einige Namen und verstümmelte ein paar andere. Er vertat sich mit ganzen Städten und verlegte sie in die falschen Zeitzonen. Er beschrieb, wie er falsche Spuren an entlegene Orte verfolgt hatte. Die Treppen zu Dachkammern mit Deckengebälk erklommen und in alten Truhen unter der Großmutterwäsche und den Fotografien der Toten gesucht hatte.
    »Tausendmal habe ich mich gefragt. Warum will ich diesen Ball? Was bedeutet er? Wer hat ihn?«
    Im Verlauf des Berichts, des gesamten ausufernden Epos, hier flüchtig, dort ausgewalzt, vertraute Brian darauf, daß der Mann nur beim Erzählen chaotisch war. Die Suche selbst war unverkennbar hart, unnachgiebig, gründlich und erschöpfend gewesen.
    Irgendwann hatte Marvin einen Mann engagiert, der in einem Fotolabor arbeitete und an Spezialausrüstung herankam. Sie schauten sich Pressefotos von den linken Außenfeldtribünen der Polo Grounds ganz genau an, aufgenommen, kurz nachdem der Ball dort hineingeflogen war. Sie überprüften Vergrößerungen und Ausschnitte. Sie gingen zu Fotoagenturen und wühlten in deren Karteien. Marvin bezahlte Leute, die ihn in Zeitungsarchive, beim Rundfunk und den wichtigsten Zeitschriften einschmuggelten.
    »Ich habe mir eine Million Fotos angesehen, nach der Punktetheorie der Wirklichkeit, daß alles Wissen dem zugänglich ist, der die Punkte analysiert.«
    In seiner Stimme war ein leises Knistern zu hören, das wie ein zufälliges Radiogeräusch klang, von irgendeiner Funkstörung hervorgerufen.
    Er erwarb Originalfilmmaterial. Er schaffte sich die Ausrüstung für eine Dunkelkammer an. Er trug beim Essen eine

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