Unterwelt
Punkten. Ein Foto ist ein Universum aus Punkten. Die Körnigkeit, das Halogenid, die kleinen silbernen Dinger, die in der Emulsion verklumpen. Sobald man in einen Punkt eindringt, gewinnt man Zugang zu verborgener Information, man schlüpft in das kleinste Geschehen hinein.
Das schafft die Technologie. Sie schiebt die Schatten beiseite und erlöst die benommene und umherirrende Vergangenheit. Sie läßt die Wirklichkeit wahr werden.
Marvin Lundy öffnete die Kiste.
Der Baseball lag, eingewickelt in Seidenpapier, in einer alten rotweißen Spalding-Schachtel. Dazu dicke Stapel von Fotos und Briefen und anderem Material im Zusammenhang mit der Suche. Geburtsurkunden, Pässe, eidesstattliche Erklärungen, handgeschriebene Testamente, detaillierte Listen der Habseligkeiten irgendwelcher Leute, außerdem blutbefleckte Kleidungsstücke in Plastiktüten mit Ruckzuck-Verschluß.
Er nahm einige Standfotos aus einem Packpapierumschlag und zeigte sie Brian.
Sie stammten aus der Sequenz mit dem Gerangel um den Ball, Scharen von Leuten, sagte Marvin, die kratzten und grapschten, und auf dem letzten Foto ein Mann im weißen Hemd, der grimmig allein dasteht und zur Ausgangsrampe herunterschaut, ein harter Blick, er starrt jemanden an, wahrscheinlich die Person, die schließlich den Ball ergattert hat, aber Marvin konnte trotz all seiner Kontrolle über die Punkte keinen Weg finden, die Köpfe der Menschen auf der Rampe herumzudrehen, damit er das Gesicht des fraglichen Individuums zu sehen bekam.
»Aber den Mann im weißen Hemd haben Sie identifiziert.«
»Weil ich das Bild im hinteren Teil von Zeitschriften geschaltet habe, bei den Wasserbetten und den schmutzigen Kleinanzeigen.«
»Und Sie haben die Frau besucht.«
»Aber erst viele Jahre nach dem Spiel. Das kam nämlich so, daß er gestorben ist. Die Witwe sitzt in einem kalten Haus und rührt mit ihrem Löffel in einer winzigen Tasse. Ich versuche rauszukriegen, was er ihr wohl von dem Spiel erzählt hat, von dem Ball, irgendwas. Was für ein Spiel, sagt sie. Ich versuche, ihr die Konsistenzen der Sache zu erklären. Aber es ist über zwanzig Jahre später. Was für ein Spiel, was für ein Ball?«
Eine Frau kam mit Kaffee und Käsekuchen auf einem Tablett die Treppe herunter. Sie schien Marvins Geschichte entstiegen zu sein, eine erinnerte Gestalt, die Fleisch und Blut annimmt. Marvin schloß die Kiste, damit sie das Tablett darauf abstellen konnte. Sie war seine Tochter, Ciarice, fest entschlossen, sich um Dad zu kümmern, ganz gleich, wie er sich wehrte.
»Hab dich gar nicht reinkommen hören. Schleicht rein wie eine Chinesin mit umwickelten Füßen.«
»Du hast gerade geredet. Ich könnte ein bewaffneter Überfall auf frischer Tat sein, und du würdest nichts hören.«
Sie war Ende Zwanzig, blondiert und fitneßstudiofit. Sie erzählte Brian, sie wohne zehn Autominuten entfernt und arbeite als Gerichtsstenographin. Er hätte sich mit Leichtigkeit in den seifen-opernhaften Kick ihrer Stimme verlieben können, ging ihm durch den Kopf, in ihre ausladenden Schenkel unter dem Leinenrock.
»Wir sind gleich hier fertig, Ciarice.«
»In hundert nervigen Stunden vielleicht. Dein Gast hat bestimmt noch anderes zu tun.«
»Was könnte das schon sein?«
»Es ist bald dunkel.«
»Dunkel, hell. Das sind Worte.«
Die Baseballschachtel lag am Boden zwischen verstreuten Fotos auf der Seite, und der Ball war herausgedribbelt, immer noch in Seidenpapier geknüllt. Ciarice zog einen Stuhl heran, und sie und Marvin brachten die Geschichte zu Ende, mehr oder weniger, von einem Mundvoll Käsekuchen zum nächsten.
»Seit wie vielen Jahren suche ich nach einem Mann namens Jackson oder Judson, Ciarice?«
»Komm zur Sache«, sagte sie.
»Denn es gab undeutliche Hinweise darauf, daß ich mich für ihn interessieren sollte. Und der Ball hat inzwischen eine Geschichte, die ich Schritt für Schritt verfolgt habe, wo sich verschiedene Dinge ineinander- und zusammenfügen. Nur kann ich den Mann nicht ausfindig machen oder sogar – was?«
»Ermitteln«, sagte Brian.
»Wie sein korrekter Name lautet. Und das Filmmaterial, vergiß es – inzwischen arbeite ich mit Gerüchten und Träumen. Es gibt beim Baseball eine übersinnliche Wahrnehmung, ein untergründiges, was, Bewußtsein, und ich höre es im Schlaf.«
»Schneller, Daddy, schneller.«
»Da ist also diese Frau. Ich bin auf der Suche nach Judson Jackson Johnson, und da meldet sich diese Frau, die meinen Namen vom
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