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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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hereinkommen, schaltet sie das Licht ein. Und dann diese Ratte. Ich stehe da und denke, was immer ich denke. Sex ist diesen Gedanken nicht völlig fremd. Und dann diese Ratte. Ich sehe die Ratte direkt die Wand hochlaufen. Sie rennt die Wand hoch, eine irrsinnig große Ratte, und sie gibt einen Laut von sich, den ich immer noch höre, wie ein pfeifender Kadaver. Und die Frau. Die Frau sagt irgendwas auf deutsch, greift sich was vom Tisch und geht auf die Ratte los. Ich stehe da, totenstill. Gelähmt von erstarrtem Begehren. Die Lust ist mir in den Lenden erstarrt. Und die Frau rast quer durchs Zimmer, hinter der Ratte her.«
    Matt legte eine nasse Tasse in das Trockentuch, das Nick in der Hand hielt. Nick bemerkte das typische Vergnügen des jüngeren Bruders, der dabeisein darf, der ausgesuchte Einzelheiten über ein infames Ereignis erfährt. Das ist um so plastischer, seltener und köstlicher, wenn der Erzähler es zuläßt, daß sich ein kleiner Hauch Narrheit um seine nüchterne Person legt, ein Mißgeschick oder etwas Glitschig-Genantes. Um so intimer und ansprechender.
    »Die Ratte rast auf der anderen Seite wieder die Wand runter und zischt ins Bad wie ein Spielzeug an der Strippe, nur tausendmal schneller. Phänomenal, diese Ratte, groß und schnell, und die Frau immer hinterher, sie schwingt irgendwas, ich hab mich übrigens nie drum gekümmert, was es war. Sie knipst das Badezimmerlicht an und geht schnurstracks hinein. Ich fühle mich, ehrlich gesagt, ein bißchen vernachlässigt. Aber egal. Ich bleibe, wo ich bin. Ich denke, was ist denn aus meinem Jazzabend geworden? Zu einer Rattenjagd verkommen. Und da steckt sie den Kopf durch die Tür.«
    Matt hing an den Zügen seines Bruders, bewegte sichtlich die Lippen zu Nicks Erzählung, nahm ein Wort vorweg oder wechselte den Gesichtsausdruck, wenn Nick es tat.
    »Ich stehe so weit von der Badezimmertür weg wie möglich, ohne daß man sagen müßte, ich hätte die Wohnung verlassen. Die Wohnungstür halte ich offen. Die Frau kämpft im Badezimmer mit der Ratte, und ich höre dieses kranke Pfeifen der Ratte. Da steckt die Frau den Kopf durch die Tür und sagt, Ich glaube es nicht! Ich habe diese Scheißratte schon zweimal gekillt! Rattengift mit Totenschädel drauf! Und jetzt ist sie zurück! Die Frau dreht sich um und geht wieder auf die Jagd. Ich fühle mich total wertlos. Mit ihr schlafen? Ich habe nicht mal das Recht, in derselben Stadt zu sein. Ich höre die Ratte durch die Badewanne rasen. Hast du schon mal eine Ratte gehört, die durch die Badewanne rast? Ich kann dir sagen, Mann, das ist knallhart.«
    Matt erstickte fast vor Vergnügen. Er gab einen kehligen Laut von sich, ein unwillkürliches Tremolo. Nick beendete die Geschichte – wie sich die Ratte fein säuberlich durch einen Schlitz in der Wand zwängte und der Abend gründlich abstürzte. Sie tranken noch eine Tasse Kaffee, dann suchte sein Bruder das Telefonbuch und rief ein Taxi. Nick stand am Wohnzimmerfenster. Er hielt Ausschau nach Nutten in Leggings auf dem Moteldach.
    Die Italiener. Sie saßen mit Papierfächern und Orangenlimonade auf den Stufen vorm Haus. Sie machten sich ihre Welt. Sie sagten, Wer ist besser als ich? Sie konnte das nie sagen. Sie wußten, wie man da sitzt und das sagt und glücklich ist. Zurückdenken Jahrzehnt um Jahrzehnt. Sie sah eine Frau, die sich mit einer Zeitschrift zufächelte, und es schien eine Enzyklopädie der Brisen zu sein, das Buch aller Brisen, die je geblasen haben. Die Stadt im Hitzerausch. Pferde, die auf der Straße verendeten. Wer ist besser als ich? Sie hörte sie da draußen reden.
    Er will, daß ich in den Zoo gehe, weil Tiere etwas Reales sind. Ich habe ihm gesagt, das sind Zootiere. Tiere, die in der Bronx leben. Im Fernsehen kann ich Tiere im Regenwald oder in der Wüste sehen. Also bitte, was ist echt und was ist falsch, da mußte er lachen.
    Leichter wäre gewesen, zu glauben, sie hätte es verdient. Er ging fort, weil sie herzlos war, närrisch, böse, eine schlechte Hausfrau, eine schlechte Mutter, eine kalte Frau. Aber sie konnte zu keiner dieser Entschuldigungen eine glaubwürdige Geschichte erfinden.
    Dabei war es die innigste Nähe, seine geflüsterten Geschichten von den Glücksspielern und der Polizei, wenn sie im Bett lagen, von seinen Tagen mit den Kleiderbossen und den Hotelpagen. Er brachte sie mit diesen Geschichten tief in der Nacht zum Lachen, Liebesnächte, in denen er ihr nachher zuwisperte, eng umschlungen im Bett, und

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