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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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selbst wenn er abgebrannt war bis auf den letzten Cent, erzählte er ihr des Nachts immer noch witzige schräge Geschichten. Mittlerweile sank sie allmählich in den Schlaf und sagte ein Ave Maria, weil sie das immer tat, bevor sie einschlief. Bloß daß sie sich nicht mehr ganz sicher war, ob ihr letztes Ave Maria von gestern oder von vor zwei Minuten war, und sie sagte das Gebet und sagte es wieder, weil sie die Zeit durcheinanderbrachte und nicht einschlafen wollte, ohne sicherzugehen.
    Sie hatte mehr Besitztümer als die meisten Menschen, die sie kannte, dank ihrer Söhne, die sie mit allem ausstatteten. Sie hatte schönere Möbel, ein sichereres Haus und Ärzte von vorne und hinten. Sie schickten sie zu einem Gynäkologen. Janet rief an, und dann rief Marian an, Frauen aller Länder, hurra. Aber sie konnte immer noch nicht sagen, Wer ist besser als ich?
    Sie kriegte das Italienische, aber ohne die Familie, nur den Jungen, der einfach auftauchte, wie ein Schatten von der Wand. Zuerst machte ihr das nichts aus. Sie mochte es. Sie wollte keine Verwandten, die mit Törtchen in weißen Schachteln aufkreuzten. Sie mochte seine Kargheit, seinen Mangel an Bindungen. Aber dann merkte sie allmählich, was das bedeutete. Das einzige, was sich in dem dunklen Körper des Mannes bewahrt hatte, war ein Kind im leeren Raum, der wendige Junge, kurz davor, sein Glück aufzubrauchen.
    Dann schlief sie, und die Automusik weckte sie. Sie hörte von neuem ihre Stimmen, die zufallenden Schranktüren.
    Sie zeigte ihre Liebe nicht. Sie zeigte sie, aber nicht genug. Darin war sie nicht besonders gut. Aber zum Teil lag es auch an ihm. Je mehr sie ihn liebte, desto mehr Angst bekam er. Er hatte Angst in den Augen, wenn er des Nachts witzige Geschichten erzählte.
    Sie hörte, wie sie die Schranktüren auf- und wieder zumachten. Sie hatten nie gewußt, wo die Sachen hingehörten. Warum sollten sie es jetzt wissen? Nieten. Sie kratzte sich am Handrücken, heftig, und sagte ein weiteres Ave Maria, nur für den Fall, daß das letzte schon gestern gewesen war.
    So war sie erzogen worden. Geh zur Kirche, ehre deine Eltern, heirate den hart arbeitenden Jungen, den gewöhnlichen Jungen, den Graubrot-Jungen, wie sie immer sagten. Und die Nonnen sagten außerdem, Du bist ein Kind Marias, und du brauchst ihn nicht zu küssen. Aber er war nicht gewöhnlich, und sie küßte ihn.
    Sie ertrug den Gedanken nicht, daß Nick vielleicht recht hatte. Daß jemand gekommen war und ihn geholt hatte. Dann wäre ihr Jimmy ja unschuldig gewesen. Was Nick schon im frühesten Alter geglaubt hatte. Aber vielleicht war das andere schlimmer, die Wahrheit war schlimmer. Es war ohne Gewalt geschehen.
    Sie schlief und wachte wieder auf. Sie horchte und wußte, daß Nick gegangen war und Matty im Bett lag, und dann horchte sie auf die Geräusche von der Straße und dachte an die Tiere in ihren Käfigen und in ihren Lebensräumen, an Löwen in der Boston Street, die in der Nacht husteten.
    Das Video wurde schon wieder gezeigt, aber Nick sah nicht hin. Er stand in seinem Hotel am Fenster und schaute auf die Autos, die sich geräuschlos über die Avenue bewegten, spärlicher Verkehr im Natriumschein der Straßenlaternen.
    Er wartete darauf, daß der Zimmerservice mit seinem Brandy auftauchte.
    Auf dem Weg hier runter war der Taxichauffeur die ganze Zeit mit der linken Hand gefahren, ein Dominikaner im Netzhemd, den rechten Arm über die Sitzlehne gelegt. Er erzählte Nick von den Morden an illegalen Taxifahrern, das kam in letzter Zeit regelmäßig vor, ein Glücksspiel, das man jede Nacht spielte.
    Nick mochte keine Katzen. Wenn sie erst einmal ja gesagt hatte, würden die Katzen in Pension gehen müssen.
    Entweder rauben sie dich aus und bringen dich um, oder sie rauben dich aus und lassen dich leben, oder du fährst sie anständig irgendwo hin, sagte der Mann, und sie bezahlen dich oder sie lassen es bleiben.
    Ich lebe ein ruhiges Leben in einem bescheidenen Haus in einer Vorstadt von Phoenix.
    Wenn er sie erst mal so weit hatte, daß sie ja sagte, würden sie ungehindert Zeit zum gemeinsamen Erinnern haben.
    Er hatte dem Mann ein anständiges Trinkgeld gegeben. Was gibt man einem Mann, der sein Leben riskiert, wenn er die Tour annimmt? Nick war sicher, daß das Trinkgeld anständig war, ordentlich, aber nicht lächerlich, nicht so, daß es ihn als Fremden bloßgestellt hätte.
    Er schaute auf den Bildschirm, das Band näherte sich der Stelle, wo der Fahrer winkt, das

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