Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
Vom Netzwerk:
trockene Winken vom oberen Rand des Steuers aus, und er wartete auf den Zimmerservice und das Klopfen an der Tür.

[Menü]
6
    A ls Matty nämlich noch ganz klein war und sein Bruder immer auf dem Topf saß und einem Winzlingspublikum Comics vorlas, vier- und fünfjährigen Stöpseln aus der Nachbarschaft, die angeblich von einem Erwachsenen irgendwo in der Nähe beaufsichtigt wurden, und Matty auf der Türschwelle, allzeit bereit, den Warnruf Chickie!! auszustoßen – da saß Nick also auf dem Topf und las ihnen aus Captain Marvel oder den Targeteers vor, die Hosen schlapp von den Kniescheiben hängend, und er führte den Dialog lebendig vor, deklamierte und fuchtelte, erfand eine Stimme für die Bösen und für die Frauen und ein dünnes, durchdringendes Kreischen für die Gangsterautos, die nachts scharf um die Ecken rasten, jagte den Kleinen manchmal mit seiner Wildheit Angst ein, pausierte dann, um einen Köttel abzusondern, der mit einem Platschen, einem Plumpsen ins Wasser fiel, dem komischsten Geräusch auf Gottes weitem Erdboden, was eine glückliche Ehrfurcht auf die Gesichter seiner Zuhörer zauberte – das war die gruseligste Wonne überhaupt, besser als alles, was sich aus den Sprechblasen herausholen ließ.
    Matt schlenderte durch das Viertel, um das alte Haus zu sehen, Nummer 611, und er hing der Frage nach, wer wohl in ihrer Wohnung im zweiten Stock wohnte, welche Sprache gesprochen wurde, wie viele vor sich hin knirschende Leben, aber vor allem dachte er an den neunjährigen Nicky, der auf dem Thron hockte. Wer sonst würde ihnen die Comics vorlesen, diese vibrierenden Dramen voller teuflischer Verbrecher und kraftstrotzender Helden?
    Er besuchte Bronzini, seinen alten Schachmentor, einen gutmütigen Mann und nicht allzu willigen Einpauker. Inzwischen wohnte er in einem tristen Bau, dessen Eingang von all den Spuren städtischen Lebens gekennzeichnet war – Sprayfarbe, Pisse, Rotze, Sprenkel von etwas Dunklem, wahrscheinlich Blut. Der Fahrstuhl funktionierte nicht, und Matt ging zu Fuß fünf Stockwerke hoch. Eine Kindersandale auf dem Treppenabsatz. Er klopfte und wartete. Er ahnte einen Augapfel auf der anderen Seite des Spions und dachte an seine eigene Straße, sein Haus und das Leben in den Computervorstädten, hingekauerten Enklaven gleich an der Autobahn, in wenig einladender Lage, an den Eckladen, wo es elf Sorten Croissants und siebenundzwanzig Sorten Kaffee gab, und irgendwie waren es trotzdem nie genug, an das Leben, das er zuvor geführt hatte, die Waffen, die er erforscht und mit perfektioniert hatte, die Erfahrung der Wüste, vollkommen losgelöst von jeglicher bodenständigen Realität, dachte er, im Vergleich zu diesem Mann auf der anderen Seite des Spions, der dem zunehmenden Zerfall auf seinem Geburtsplaneten zuschaut.
    Das Lächeln des Mannes lag in seinen Augen, ein warmes Sprudeln voller Bereitwilligkeit und Lust auf Wissen. Das war übriggeblieben, seine Neugier. Er sah zu alt aus, zu karg, sein Gesicht ein eckiger Umriß, sein früheres Aussehen nur noch wie durchgepaust, ein abgemagerter und ausgebleichter Bronzini. Ein paar Tage grauer Stoppeln umgaben seinen ungepflegten Schnurrbart, und Matt dachte, der Mann hat das Alter ergriffen, es mit einer rückhaltlosen Zustimmung angenommen.
    »Bitte nicht Mister. Albert reicht doch. Und du siehst gut aus. Robust, das überrascht mich. Ich erinnere mich an ein Streichholz. Ein Streichholz mit einem Flammenkopf.«
    Offenkundig hatte der Mann ihre kürzer zurückliegenden Treffen vergessen. Sie saßen an einem Tisch beim Fenster und tranken frischgebrühten Tee. Bronzini lebte jetzt mit seiner Schwester zusammen, die nie geheiratet hatte, die in ihrem Zimmer saß und einen Singsang von sich gab, von begrenzter informationeller Tragweite, wie er sagte. Sehr verdichtet. Aber als er erst einmal gelernt hatte, Geduld mit ihren Wiederholungen und Umschreibungen zu haben, empfand er ihre Gegenwart zunehmend als Quelle großen Trostes. Erholung, sagte er, von seinem eigenen inneren Toben.
    Er sagte: »Manchmal fahre ich mit dem Zug nach Manhattan rüber. Da gibt es ein Schachcafé, im Village, und dort spiele ich ein, zwei Partien. Ich verliere, aber es ist mir nicht peinlich. Oder ich spiele da unten auf dem Spielplatz mit einem Nachbarn. Wir teilen uns eine Bank. Die Kinder lassen uns in Ruhe.«
    »Ich spiele nicht«, sagte Matt, seine Stimme frei von jeglicher Nuance.
    »Ich habe mir immer Gedanken über deinen Vater gemacht. Er hat

Weitere Kostenlose Bücher