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Untitled

Untitled

Titel: Untitled Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Bessing
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nebst letzter Reihe und Stehplätze vereint – animiert er den Chor der Fotografen ein letztes Mal noch zu einem ergreifend schönen Hymnus auf uns und die Herrlichkeit der Mode, heute Abend, hier, in New York.
    Gewiss, es gibt Stimmen, die feststellen wollen, dass ich ihnen damals im Februar – ob nun an diesem Abend oder in den Stunden zuvor – alles andere als glückstrahlend vorgekommen sei. Regelrecht deprimiert nämlich, angeschlagen, von etwas Unheilvollem, ganz schlechten Nachrichten etwa, in Besitz genommen, so habe meine Erscheinung auf sie, die Außenstehenden gewirkt. Da sie mich auch anders kennten.

    Wie denn genau?
    Na: Anders eben. Weniger traurig. Undeprimiert. Kann alles sein, ich kann doch nicht ständig in einen Handspiegel starren, um meine Erscheinung zu justieren. Aber jetzt zum Beispiel, während ich neben Erin auf der Rückbank des Wagens sitze, der uns zum Flughafen bringen wird, höre ich: Warum schaust du so traurig?
    Ich sollte mich botoxen lassen. Wäre mir diese Prozedur in meinen Teenagerjahren angeboten worden, ich hätte eingewilligt. Das Mantra meiner Umwelt, von den Eltern über die Klassenkameraden bis zu Wildfremden, Passanten lautete: Warum schaust du denn so traurig? Gerne auch im Appellativ. Und das über Jahre. Bis heute wie gesagt. Morgen auch wieder – eigentlich liegt der Grund meines traurigen Schauens doch offen.
    Trotz alledem fühle ich mich von einer plötzlichen Traurigkeit ergriffen. Und zwar von einer der todtraurigen Sorte: ich weiß nicht, woher das rührt, aber ich fürchte zu sterben. Mit einem Mal, es gibt keinen Anlass; der Wagen ist schwarz und er fährt gut abgefedert über die Schlaglöcher in Richtung der Brooklyn Bridge. Soeben sind wir am Gramercy Park Hotel vorbeigefahren, das gibt es ja auch schon ewig, und ich denke an den Film Almost Famous, den ich mir immer dann anschaue, wenn es mir wirklich dreckig geht, in meinem Bett, mit einer Wärmflasche auf dem Bauch, und in dem eine der wichtigsten Szenen in diesem Hotel spielt – allerdings, bevor Ian Schrager daraus ein Luxushotel gemacht hat; die wichtigste Szene für mich ist trotz alledem jene, in der dieser kleine Junge von seiner abgehauenen Schwester die ganzen Schallplatten bekommt und dazu den Zettel, als eine Gebrauchsanweisung zu verstehen: Zünde eine Kerze an, höre The Who: One day you’re gonna be cool.

    Ich hatte keine große Schwester.
    Ich bin mit einem Mal – schlagartig – so traurig, es durchspült mich, in mir schwappt eine Substanz ohne eigene Temperatur – das bin auch ich! Als würde ich in mir selbst untergehen, hinuntergezogen unter etwas, das auch noch aus mir besteht. Und ich kann es weder denken noch aussprechen, was es ist, das mich so dunkel und schwer macht von innen nach noch weiter hinein. Wo es herkommt. Wer mir das schickt. Mein Gehirn scheint porös geworden.
    Und als ich annehmen will, eine Art Tiefpunkt erreicht zu haben, wird mir plötzlich, als würde ich ausgeschaltet. Ausgeschlürft in zwei raschen Zügen. Ich schaue aus dem Fenster, sehe dort etwas, aber weiß nicht, was das alles bedeutet und ist.
    Auf meinem Sitz im Flugzeug sacke ich sogleich in mir zusammen, weinend und wimmernd wie damals als Kind, und auch die Müdigkeit ergreift mich darauf mit ihrer einst vertrauten Gewalt, wenn ich vom Schluchzen derart durchgeschüttelt worden war, dass ich vor Erschöpfung einschlief.
    Ich habe seit ziemlich genau vierzehn Jahren nicht mehr geweint. Es gab nicht gerade viele, aber schon einige Momente, an denen ich mir gewünscht hatte, sehr sogar, es wieder einmal hinzubekommen – dass sich etwas löst. Und ausgerechnet hier nun, auf diesem großartigen Fensterplatz in einer voll besetzten Business Class wird mir endlich, endlich das Weinen wiedergegeben. Und es hört nicht mehr auf. Endlich wieder dies lange vermisste Gefühl, dass es in meiner Kehle viel zu eng zugeht. Diese Zuckungen in den Mundwinkeln, die mein Gesicht unweigerlich verziehen. Schon füllen meine Augen sich von unten her mit Tränen. Ich muss die Lider zusammenpressen. DieTropfen fühlen sich wie heiße Steine an, riesig groß. Ich bin merkwürdig dankbar, irgendwie auch stolz auf meine unbegreifliche Traurigkeit, die so tief geht, dass ich weinen muss. Aber es ist mir auch peinlich vor den anderen Menschen. Sogar vor Erin, sie sagt nichts, fasst mich vor allem auch nicht an, weil sie weiß, dass ich das nicht mag, wenn mich jemand anfasst, ohne dass ich darum gebeten habe. Sobald es

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