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Untitled

Untitled

Titel: Untitled Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Bessing
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Verklärung war mir jetzt auch schon so lieb wie die Demut und die gefühlvollen Lieder, die ich in meiner Unerfahrenheit als Kitsch verachtet hatte. Dabei berichteten diese lediglich aus Welten, die mir bis dahin fremd gewesen waren und fern: aus der Welt der Leidenden, dem Reich der Liebenden, dem Garten der Sehnsucht und was es dort noch so alles geben mochte. Ich fürchtete mich vor der Reichhaltigkeit meines sich entfaltenden Gefühlslebens. Ich wünschte mir Gnade – war ich doch zum ersten Mal verliebt. Und ausgerechnet jetzt, wo ich im Alter von vierzig Jahren meine große Liebe gefunden hatte, Julia, meineSchwester im Geiste, im Wesen, meine Seelenverwandte, wird sie, wird Julia an den allerentlegensten, hinterletzten Winkel des Planeten entführt – Australien. Zigzehntausend Kilometer weit weg.
    Mit einem Mal war mir, als würden mir die Knochen mit Salbe gefüllt.
    Es war nicht der letzte Zusammenbruch in dieser ersten Zeit unserer Getrenntheit, den Tagen, als mir bewusst wurde, dass Julia nicht nur tatsächlich fort war, sondern sie auch tatsächlich ganz und gar nicht bald wieder zurückkehren würde. Die Tage verliefen nun nach einer eigenartigen Dramaturgie. Das Aufwachen war das Schlimmste. Am ersten Morgen glaubte ich, an einem schlimmen Kater zu leiden. Bis mir einfiel, dass ich in der Nacht zuvor gar keinen Alkohol getrunken hatte. Meine Therapeutin hatte mir bereits in der Sitzung vor Julias Abreise dringend zur Abstinenz geraten, da sie, wir sprachen offen darüber, befürchtete, dass ich sonst die Hemmung verlieren könnte, einen weiteren Selbstmord zu versuchen – und bei diesem Mal sozusagen Glück haben. Und das wollten wir beide nicht. Obwohl ich also nüchtern zu Bett gegangen war, fühlte ich mich in den Minuten nach dem Augenaufmachen von einem starken Schwindelgefühl erfasst – wohlgemerkt: da lag ich noch immer, hatte noch nicht einmal das Aufrichten versucht –, dass ich vor lauter Schwindeligsein meine Augendeckel wieder zuklappte, aber auch im Dunkeln schwirrte mir der Kopf. Etwas Ähnliches hatte ich mal bei einem kleinen Streit mit Julia erlebt, als sie, da war es warm und nachts und Sommer, erschreckt durch meine lauten Worte auf ihr Fahrrad gesprungen war, es dabei anschiebend, und mir im Davonfahren über die linke Schulter zurufend gedroht hatte: Dann können wir uns nie mehr wiedersehen! Und ganz anders als meine beschriebene Art der langen Leitung brauchte diese Drohung nur wenige Teraflops, damit mir klar war: das meint sie ernst! Oder die Konsequenz der Drohung erschien mir als ernst zu nehmend, jedenfalls wurde ich da auch von einem Schwindel ergriffen, der auf gar keinen Fall von den zuvor im dämmrigen Park geteilten Dosenbieren herrührte, sondern direkt aus mir entsprungen war. Ich schaffte es nur gerade so bis in meine Wohnung, sackte dort auf einem Stuhl zusammen, zur Betätigung des Lichtschalters fehlte mir die Kraft. Ich schrieb Julia im Dunkeln eine SMS : Mir geht es furchtbar.
    Sie schrieb: Mir auch!
    Mir ist ganz schwindlig.
    Mir auch.
    Was ist das?
    Und sie schrieb zwei Worte: Angst. Psyche. Seltsamerweise wirkte das wie Zuspruch auf mich, das bedrohliche Gefühl wurde durch die Gegenwart Julias in Form dieser Nachrichten sofort gemildert. Ich glaube, ich konnte danach sogar schlafen, jedenfalls schaffte ich es von der Küche ins Bett. Und am nächsten Morgen haben wir uns gegenseitig unseres Wohlergehens versichert, ein paar Tage später konnten wir uns wiedersehen und alles war wieder gut. Gelähmt vom Schwindelgefühl, das auf mir lastend und zugleich in mir als ein ellipsoides Sausen war, blieb ich fügsam liegen und erwartete das Abklingen. Und wie es zu Beginn von Casablanca tönt: und wartete und wartete und wartete und – wartete. Ab und an öffnete ich die Augen. Da begriff ich zum ersten Mal die Trostlosigkeit. Was damit gemeint war.
    Nicht ganz so häufig, aber beinahe, hatte ich behauptet, mich verliebt zu haben, verliebt gewesen zu sein, und war es halt doch nie bis zu jenem Abend im Februar 2010, als mich Julia Speer in einer mir fremden Wohnung vor dem Bücherregal ansprach. Hätte sie mich gefragt, wie mir dieEinrichtung dieser Wohnung gefalle – anstelle ihrer Bemerkung über das Buch in meiner Hand –, ich hätte wohl trostlos gesagt. Aber nicht nur Wohnungseinrichtungen, auch Städte und Landschaften, Filme, Songs, ja sogar Modekollektionen (einst schrieb ich über Mode, es ist noch nicht lange her) konnten meiner Meinung nach

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