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Untitled

Untitled

Titel: Untitled Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Bessing
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trostlos sein. Seit dem Erwachen an dem Morgen nach Julias Abreise war ich eines Besseren belehrt – von wem? Keine Ahnung, von mir selbst vermutlich. Ich lag auf dem Bett und es kam mir in den Sinn – und zwar gefahren, wie ein Güterzug mit viel zu vielen Waggons. Zudem befand ich mich viel zu nah an der Abschrankung des Bahnübergangs, sodass ich den Himmel nicht mehr sehen konnte und auch nicht den Grund, auf dem ich, so war zu hoffen, stand, bloß noch die in vollkommener Geräuschlosigkeit vorüberdröhnenden Waggonflächen, von denen ich ablesen musste: Trostlosigkeit. Nie wieder würde ich dieses Wort anders als mit dem gebotenen Respekt verwenden. Trostlosigkeit ist etwas ernst zu nehmendes. Sehr! Hotelzimmereinrichtungen, Filme, der Geschmack fremder Leute: nicht.
    Ich brauchte ein Zeichen, eine Handreichung Julias. Dann, das spürte ich als eine Gewissheit: ginge es mir besser. Blitzartig. Aber der Schwindel und die Trostlosigkeit, unter der ich zu leiden begann (ja sicher, das war erst der Beginn meiner Zeit des großen Kummers), waren Anzeichen meiner Hoffnungslosigkeit. Ich wusste doch, dass ich frühestens am nächsten Tag mit der ersehnten Kleinigkeit, mit der Handreichung Julias rechnen durfte. Denn die Reise war lang. Und so ganz anders als ein Blitz, der längst vorüber ist, während man ihn noch beim Namen nennt. Mit ihrer letzten Nachricht hatte Julia ein elastisches Band an mir befestigt, das sie nun auf ihrer Flugbahn mit sich zog und zog und zog. Das Band wurde haarfein und nochdünner ausgezogen, sodass es mich nie würde tragen können – in meinem Liegen wurde ich von der Angst gequält, dass dieses Band irgendwann reißen könnte. Die Zeit verging anders, was mir lang schien, waren doch bloß Minuten gewesen. Aber als es dämmerte, war ich vom plötzlichen Aufziehen des Abends überrascht. Und nicht bloß mein Zeitgefühl war verändert. In meinem Empfindarium hatte sich ein für mich lebenswichtiger Regler verstellt.
    Musik war für mich schon immer von immenser Bedeutung. Musik war, stärker als Lesen und alles andere, meine insgeheime Leidenschaft, und ich verdanke dem Hören von Musik etliche als selig machend empfundene Stunden. Bis ich Julia traf, hörte ich am liebsten alleine Musik. Anfangs stellte ich wie so viele Jungs gerne Kassetten zusammen, entweder für meinen Walkman, oder ich verschenkte sie an Mädchen, das kam allerdings nicht oft vor. Denn ich musste schon früh feststellen, dass die Mädchen, die ich verehrte, deren Geschmack ich in vielem teilte, leider nur Musik hörten, die ich wiederum grässlich fand. Es war eigentlich erst Julia – sie war die erste Frau mit ausgezeichnetem Musikgeschmack. Ausgezeichnet heißt in dem Fall: identischer Geschmack. Mit Julia habe ich viel Musik gehört. Wir haben Tausende von Musikdateien ausgetauscht. Ich habe ihr Wiedergabelisten für das iPhone und für ihr iPad zusammengestellt. Musik war ein Kleber. Ganz, ganz wichtig für uns. Ich habe an diesem Tag natürlich versucht, Musik zu hören. Vielleicht wollte ich dadurch ihre Anwesenheit simulieren, ich wollte mir einfach etwas Gutes tun. Aber das wirklich Schrecklichste, was ich je erlebt habe, war: ich konnte die Musik nicht mehr empfinden. Ich hörte Geräusche; wenn ich sie lauter stellte, wurde es Lärm. Aber in meiner Seele tat sich nichts. Und ich habe es wirklich und tapfer und geduldig mit diversen Stückenausprobiert. Nicht einmal bei unserem Lied, Trying Your Luck von den Strokes, regte sich auch nur irgendwas. Dass es Seelenblindheit gibt, davon hatte ich gelesen. Allerdings wird die Agnosie durch eine Verletzung des Gehirns hervorgerufen, nicht durch den Verlust der Liebsten. Dennoch befürchtete ich, eben davon seelentaub geworden zu sein.
    Ihr Leiden wird Sie nun tiefer in Ihre Psychologie hineinführen, als ich das mit den Mitteln der Psychologie vermag, sagte meine Therapeutin, die ich in meiner Verzweiflung telefonisch zu konsultieren verlangt hatte. Auch kein Trost. Sie gab sich alle Mühe, die von mir beschriebenen Leiden hinfortzuerklären – das hat auch etwas Rührendes, wenn man sich lang und gut kennt: zu durchschauen, wie der andere sich anstrengt, nur damit es einem etwas besser geht; damit man ein kleines bisschen weniger leiden muss –, aber die Wahrheit schimmerte durch ihre Therapeutensätze. Und die Wahrheit besagte: Es hilft dir nichts.
    Sie haben sich eine ganze Welt um diese Frau herum aufgebaut – und diese Welt bricht jetzt zusammen. Wir

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