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Untitled

Untitled

Titel: Untitled Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Bessing
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fatalen Verlauf solcher Gedankengänge bewusst gemacht. Aber an dem Umstand, dass mir erst lange nach dem Gestoßenwordensein sozusagen aufgeht, dass ich gestoßen wurde, daran konnte meine Therapeutin nichts ändern. Die völlig zu Recht für fatal befundenen Gedankengänge (den Begriff des Grübelns finde ich hässlich) können aber deshalb überhaupt erst entstehen: Da die mich stoßende Person längst nicht mehr da sein wird, wenn der von ihr verursachte Stoß in meinem Bewusstsein eintrifft, führe ich die Auseinandersetzung gezwungenermaßen mit mir selbst.
    Ich habe nie wieder einem Flugzeug hinterhergeschaut, wie es, wie diese tatterige Metallröhre mit den viel zu schmalen Flügeln auf ihren viel zu kleinen Rädern an ihre Abflugstelle rollt. Ich stand dort, ich lehnte gegen die auskragende Panoramascheibe einer Lounge des Flughafens Tegel. In meiner Erinnerung halte ich mich mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Fingern an der Scheibe fest wie eines dieser Plüschtiere, die man sich mit Saugnäpfen an die Autoscheibe pappt. Und ich hörte Musik. Shakespears Sister, Hymne der Oknophilen. Und ich habe nicht geweint. Das will etwas heißen, denn seit ich Julia kenne, heule ich ständig und wegen allem und jedem. Später saß ich in einem Taxi, in dem es schlecht roch, und es war mir egal. Ich hielt das iPhone in der Hand wie ein Küken und las wieder und wieder die Worte, die Julia mir noch aus dem Flugzeug geschickt hatte, bevor sie ihr iPhone in denFlugmodus stellen musste: My Dear, ich würde so furchtbar gerne erfahren, wie es dir geht: J
    Da ich in den Monaten zuvor bereits so lang und heftig gelitten hatte, kannte ich mich allmählich aus in meiner Gefühlswelt; das war kein Dickicht mehr, und längst noch kein Vorgarten – aber dass die wenigen Worte von Julia ausreichten, um mir Hoffnung zu geben: dessen konnte ich mir sicher sein. Irrwitzige Hoffnung in diesem Fall. Geradezu Wahnsinn! Denn während mich der Fahrer auf der Rückbank seiner schlecht riechenden Fahrgastzelle mit ungefähren fünfzig Stundenkilometern vom Flughafen zurück in das Viertel an der schönen Muldensteinstraße kutschierte, hatte Julia bald schon ihre Reisegeschwindigkeit von annähernd Schallgeschwindigkeit erreicht.
    Oh ja, Australien gab es wirklich. Und es kam nächtens, auf Silberschwingen herbei.
    In dieser Nacht schlief ich nicht. Zweimal zog ich mich wieder an und lief quer durch das Viertel bis zu ihrem Haus. Ich stand dort unten neben einem Altkleidercontainer und schaute hinauf zu ihren Fenstern. Zu den dunklen Fenstern, hinter denen Julias dunkle Wohnung lag. Eine Wohnung, die einst Julias Wohnung war. Am Tag zuvor noch. Jetzt stand sie leer.
    Als es heller wurde, gab ich die Versuche des Einschlafens auf und schaute auf das Fußballfeld vor meinem Küchenfenster. Die Bäume würden nun bald die Blätter abwerfen. Ich konnte das riechen, der Duft von Teesatz war überall. Winter ohne Julia hatte ich schon einige erlebt. Genau neununddreißig. Aber dieser würde gnadenlos werden, fürchterlich. Das wurde mir schlagartig klar. Und ich bekam weiche Knie. Genau so, wie man das liest in Gedichten oder schlechten Romanen und Reportagen oder wenn es in Filmen die eine der anderen sagt – und dannpassiert es einem selbst, ich bekam es zu spüren und gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich mich bislang über diese Gefühlsäußerungen aus Unkenntnis lustig gemacht hatte. Da schämte ich mich. Ich musste mich setzen und empfand etwas Ungewohntes. Das war die Demut. Zum ersten Mal in meinem Leben. Unaufgefordert. Ich hätte es nie und nimmer für möglich gehalten, zu einem solch kleinlauten Gefühl überhaupt fähig zu sein. So etwas aus der Mode Gekommenes wie Demut empfinden zu können. Und von dort aus ging es noch weiter. Ich empfand: Diese Romane und Lieder waren nicht allesamt schlecht. Flugzeuge im Bauch, um ein besonders krasses Beispiel zu nennen, ist ganz und gar nicht schlecht. Die Singstimme gefiel mir noch immer nicht, aber sie sang mir nun – aus dem Herzen. Der Text drückte meinen Schmerz aus – obwohl er vom Leiden an einem anders gelagerten Problem zu berichten hatte – egal. Scheißegal, sagte ich. Ich sagte es laut und ich nickte. Und auf eine völlig abstruse Weise sah ich Julia, die Augen, ihr liebes Gesicht, wie sie aus ihrem lufthansafarbenen Sitz über den Wolken auf mich herniederschaute. Und wie sie lächelte – voller Güte. Liebevoll.
    Das von mir gelegentlich verspottete Phänomen der

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