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Untitled

Untitled

Titel: Untitled Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Bessing
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telefonierten etwas über eine Stunde. Sie ist eine gute Zuhörerin. Als sie das Gespräch beenden musste, weil ein anderer Patient an der Reihe war, fühlte ich mich alleingelassen. Mutterseelenallein. Noch so ein Wort. Aber auch das hatte seine Berechtigung, es bezeichnete tatsächlich ein Gefühl, ein ganz fürchterliches. Ich dachte an das Lied Sehnsucht von Purple Schulz, es wurde dunkel, ich schlief nicht ein. Wie lange war es her, dass ich etwas gegessen hatte? Ich fühlte nichts, weder Hunger noch Appetit; was ich zuletzt gegessen hatte, wollte mir auch nicht mehr einfallen. In der Dunkelheit hielt ich das iPhone fest, obwohl ich wusste, dass Julia mir die geringe Handreichung nicht geben konnte – aber in meiner Vorstellung war Julia in diesem Gerät drin. Da waren ihre Emails drin und meine. DieFotos, die wir gemacht und ausgetauscht hatten, die Songs. Die Kommentare zu den Fotos, die Kommentare zu den Songs. In dem Gerät war, wenn schon nicht sie, nicht ich, doch unsere ganze Welt.
    Auch nach einer schlaflos verbrachten Nacht gibt es einen bestimmten Moment, an dem einem klar wird, dass die Nacht nun vorüber ist. Und in diesem Moment wurde mir ebenso klar, dass Julia noch immer das Erste war, an das ich am Morgen dachte. Wie Julia ja auch noch immer das Letzte war, woran ich dachte, bevor ich hinüberglitt in den Schlaf – wenn ich den Aufgang zur Rutschbahn denn fand. Kaum hatte ich diese Feststellung gemacht, fühlte ich neue Verzweiflung, denn es war ja nun alles anders; und es wäre ja alles halb so schlimm mit dem Vermissen, wenn das Vermissen Augen hätte, eine Intelligenz dazu, wenigstens einen Sinn – aber so funktioniert das eben leider nicht. Das Vermissen ist blind, es ließ mich an der Abwesenheit Julias leiden, obwohl es doch klar war, dass diese Abwesenheit nicht zu beheben war. Wozu also noch vermissen? Zu allen anderen Zeiten, gleich wie krisenhaft oder schlimm es um uns, um unsere Beziehung auch gestanden hatte, jedenfalls hatte ich da immer noch einen Grund gehabt zur Hoffnung, dass ich sie irgendwo irgendwann wiedersehen durfte. Irgendwie hatte sich das ja auch immer machen lassen. Und die manchmal arg langen Abstände zwischen unseren Treffen hatte ich mit Sehnsucht, mit liebenden Gedanken und vielen Nachrichten und Bildern und Songs aufgefüllt. Die sangen und sprachen und erzählten alle von meinem Sehnen nach Julia, von meiner Liebe zu ihr. Nun wurde mir beides in zunehmend weitere Ferne gerückt. Fliegenderweise. Man kann sich keine Vorstellung davon machen, wie sich der Verlust der Hoffnung anfühlt. Wie Hoffnungslosigkeit wirkt.

    Ich lag, noch immer vom Schwindel niedergehalten, und mein Denken bewegte sich auf einer dem Gang des Schwindels ähnlichen ellipsoiden Bahn: Julia Julia Julia geliebte Julia. Ihre Augen, wie sie mich anschaut, wenn unsere Fahrräder nebeneinander vor einer Verkehrsampel anhalten. Julia, sie ist zierlich, sie schaut von links unten. Ihr dunkler Blick. Wenn ihr die Sonne direkt ins Gesicht scheint, bekommen ihre Augen einen Honigton, rings um die Pupille des einen treten dunklere Punkte hervor, die wie Sternbilder angeordnet sind, und dann sieht es für mich so aus, als habe jemand die Honigscheiben mit Zimt bestäubt – so köstlich ist mir ihr Schauen. So sehr liebe ich es, ihr in die betörenden Augen zu sehen. So sehr liebte ich das, musste es heißen, denn es war ja vorbei. Nie wieder in die Sonne mit ihr, keine Spaziergänge, nie wieder Fahrrad. Die Ampeln gab es weiterhin.
    Ich erinnerte mich an einen frühen Abend, da durfte ich sie von zu Hause abholen. Ich meine, das war sowieso das erste Mal, dass ich überhaupt ihre Wohnung betrat. Das muss noch im Februar gewesen sein, denn die Erinnerungsbilder zeigen uns in Winterbekleidung und Julia stülpte sich eine Mütze aus himbeerfarbener Wolle über ihren wunderschön geformten Kopf und ich starrte sie an, ich konnte nichts sagen, nur schauen und nicht einmal denken, was mein Gehirn da mit den Bildern machte: es befand. Ich fand Julia niedlich, ich fand sie süß, wie ein Stück Schokolade, wie Eiscreme – egal, dass es kalt war draußen –, ich verstand nun, es klickerte, weshalb man sagt: Du siehst zum Anbeißen aus. Es wird dieselbe Lust gemacht. Ob Keks, ob Mädchen: man will sie in den Mund nehmen und auf der Zunge spüren. Ich stand da in dem Flur der ehelichen Wohnung wie ein Humanprimat und sie spürte wohl, wie sehr ich Lust auf sie hatte. Und da machte sie etwas Faszinierendes: Sie

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