Untitled
erreicht hat, an dem ihm aufging, dass sie ihm wie eine zierlichere Version seines Zimmergenossen erschien – er sagt es so: Ich dachte: Seine Seele kehrt zurück.
Als Julia mich später wie versprochen besuchen kommt, hat er sich Ohrhörer eingesetzt und hört mit geschlossenen Augen Musik.
Es ist schon beinahe dunkel, das übrige Sonnenlicht bringt die gelben Vorhänge zum Leuchten. Ich erzähle ihr, was Cyril über uns gesagt hat, die starke geschwisterliche Verbundenheit, die er empfunden haben will, als er uns am Vormittag zusammen erlebt hat. Julia lächelt. Aber mit dem Lächeln ist etwas anders als sonst. Da ist etwas, das sie mir sagen will, etwas, das sie zurückhält, ich kann das spüren, was ist es bloß? Ich beklage mich, dass es wegen dieser Sache mit dem Unfall nun nicht zu unserer Verabredung kommen konnte, die wir an diesem Sonntag – war das wirklich erst gestern? – getroffen hatten. Julia sagt, dass das nichts ändert – ich müsse mich nur erst einmal ausruhen, wieder gesund werden. Die Verabredung kann warten. Was ist es denn, was sie mir sagen will? Die Ärzte wollen mich morgen früh gleich operieren. Unter der kaputten Augenhöhle verläuft ein wichtiger Nervenstrang,der momentan durch die Knochenbrüche abgeklemmt wird. Wenn der abstirbt, hat man mir klargemacht, bleibt diese Gesichtshälfte womöglich für immer ohne Gefühl – so wie jetzt.
Du fühlst nichts?
Ich ahme Cyrils Kopfbewegung nach.
Kein bisschen? Wie ein eingeschlafener Fuß. Das heißt also: Ich fühle Taubheit – Küss mich mal, bitte.
Ihr dunkler Blick! Sie verlagert ihr Gewicht, behutsam beugt sie sich über mich, ohne mein Auge aus dem Blick zu verlieren, ich sehe ihre wunderschönen Lippen – ich kann nicht anders: ich schließe meine Augen. Zuerst spüre ich ihren Duft, dann das sanfte Gefühl, ich versuche es, so gut es geht, mit meinen tauben Lippen zu erwidern – es fühlt sich komisch an – Das fühlt sich komisch an, sagt Julia. Hast du Angst vor der Operation?
Ich versuche ihr in möglichst neutralem Ton zu schildern, was mir der Chirurg vorhin bei der Visite als sein Vorhaben geschildert hat. Und obwohl ich seinen robusten Bauarbeiterton eliminiert habe, geht es dabei halt noch immer um mein Gesicht, was ihm und den Kollegen nachvollziehbarerweise lediglich als Baustelle erscheint. Und so wird Julia bereits bei der ersten Erwähnung der geplanten Repositionierungen und Schraubungen ganz durchsichtig und ich lasse das. Was mir größere Sorge bereitet, ist die Vollnarkose: Was, wenn ich nicht mehr derselbe bin, der daraus erwacht? Was, wenn ich Julia dann nicht mehr wiedersehen kann – weil ich sie nicht mehr wiedererkennen kann?
Julias Hand ist so schlank, dass mein Zeigefinger und der kleine von ihr unbedeckt bleiben. Sie streicht mit den Fingerspitzen über meinen Handrücken, während sie spricht: Ich könnte deine Hände unter tausenden finden. Du hastmir einmal geschrieben, dass deine Augen das einzige sind an deinem Körper, das du selbst schön finden kannst – das ist bei mir auch so. Aber an dir finde ich alles schön, deine Augen besonders, stimmt schon. Und so wäre das auch für dich, in dem von dir beschriebenen Fall. Keine Narkose wird das auslöschen können.
Und sie meint, was sie sagt, das kann ich spüren: Das ist doch ein Abenteuer, du gehst dorthin, wo ich noch nie war – und du wirst zurückkehren, das verspreche ich dir – fest versprochen!
Aber die Bewusstlosigkeit ist kein Ort und kein Land, sage ich. Ich reise also nirgendwohin. Und trotzdem kann es sein, dass ich nicht mehr zurückkomme.
Du kommst aber zurück, sagt Julia. Ich weiß das. Weil ich es will.
Wir kennen uns jetzt über ein Jahr. Gesehen haben wir uns nicht oft. In manchen Zeiten ein Mal in der Woche, manchmal weniger. Es gab Durststrecken. Ich frage sie, ob das eigentlich brutto zählt oder netto, diese Zeit, über ein Jahr, die wir uns nun kennen. Und Julia sagt: Brutto natürlich. Denn aus meinem Bewusstsein warst du keinen einzigen Moment lang fort.
Dass ich eventuell stärker angeschlagen bin, als ich es in ihrer Gegenwart spüren kann, merke ich unter anderem daran, dass ich ihr gar nicht widersprechen will. Ich bin, wie ich es heute früh im Mesulidnebel gesagt hatte: Ein Kind. Zumindest ein bisschen – vertraut habe ich ihr ja immer schon, obwohl das für mich nicht immer leicht zu verstehen war, warum ich das will (ihr vertrauen). Aber nun ist es anders: Ich verstehe, warum es heißt, dass
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