Untitled
man an jemandes Lippen hängt; dass man der Worte eines anderen bedarf wie Wasser, Luft oder Brot. All das trifft nun plötzlich auf mich zu und es liegt nicht daran, dass ich hier,dass wir in Australien sind, weit weg von Berlin und beinahe so weit von New York oder Los Angeles, wo die anderen Freunde wohnen. Dass ich alles schlucken will, was Julia mir vorsetzt – und das gern, liebend gern –, liegt nicht daran, dass ich hier in der Fremde ganz auf sie gestellt bin, wie es heißt: auf Gedeih und Verderb. Nein, was Julia sagt, birgt eine Botschaft. Jemand könnte uns den Ton abdrehen, oder mir die Ohren zustöpseln wie drüben Cyril – Julias Botschaft käme aller Widrigkeiten zum Trotz bei mir an.
Ich muss eingeschlafen sein, denn als ich geweckt werde, ist sie nicht mehr da. Auf meinem Tablett liegen zwei Tabletten: mein Frühstück. Dazu ein halber Becher stilles Wasser. Obwohl ich eigentlich nur solches mit Kohlensäure mag und am allerliebsten Badoit, weil nur Badoit diese unnachahmlich großen Blasen hat, nehme ich den Schluck zu mir, denn ich habe einen Riesendurst.
Die gelbe der beiden Tabletten wird mich angenehm gleichgültig machen, darauf hat mich der Anästhesist hingewiesen und dabei ein Gesicht gemacht, als dürfe er neidisch sein auf diese Erfahrung, die er mir damit beschert. Was die violette bewirken wird, habe ich vergessen. Dann kommt eine Schwester und schiebt mich aus dem Zimmer. Cyril scheint noch zu schlafen, sein rechter Unterarm liegt ihm quer über den Augen. Der Anblick ist mir vertraut. Ich weiß gar nicht: Ist es draußen überhaupt schon hell? Ich habe vergessen, nachzusehen. Diese Filmeinstellung: Die Kamera liegt sozusagen auf dem Rücken, das Objektiv steil nach oben gerichtet, so zeigt sie das monotone Vorüberziehen eines Bandes aus Neonröhren an der Decke des Krankenhausflures – es gibt sie tatsächlich. Das Licht dort oben ist ziemlich gelb. In den Filmen wird das Bild irgendwann unscharf. Wenn die Sinne zu schwinden beginnen.Das gibt es in Wirklichkeit nicht. Und der Operationsraum ist ziemlich schäbig und klein. Ein Saal ist es nicht. Als die unscharfen Leute in Blau reinkommen, müsste es eigentlich eng werden – wird es aber seltsamerweise nicht. Mir ist, als würde ich selbst fortwährend kleiner, und mir fällt dieser Satz ein: If you make yourself very small you can externalize almost everything. Der Anästhesist drückt den Inhalt einer dicken Spritze durch den Zugang in meinen Arm. Dabei nickt er mir aufmunternd zu: Na, dann erzählen Sie mal: Was hat Sie denn nach Australien geführt?
Das ist ja leider eine längere Geschichte.
Und jetzt wird das Licht hinter seinem Kopf ziemlich hell.
Ich will unbedingt zurückkommen.
Ungeteilt
Ein halbes Jahr nachdem Julia die Abendmaschine nach Australien bestiegen hatte, konnte ich nicht mehr anders, da war ich so weit. Ich hatte bis zu dieser Stunde, da Idee und Kauf des Flugscheins eins geworden waren, alles versucht, um getrennt von Julia weiterzuleben. Es ging nicht – genauer gesagt: wahrscheinlich ging das schon; zu jener Zeit gab es ja bereits sieben Milliarden Erdbewohner, die ihre Leben ohne Julia hinkriegten. Bloß ich schaffte das halt nicht. Schon in der Zeit, da Julia und ich noch in derselben Stadt lebten, ging es mir an den Tagen, an denen wir uns nicht sehen konnten, nicht gerade gut. In den Oktoberwochen nach ihrem Abflug verschlechterte sich meine Situation.
Was da genau geschah, ist schwer zu beschreiben. Es geht um die Seele. Vielleicht ja so: Wenn mir etwas zustößt, dauert es ziemlich lang, bis ich begreife, was mir zugestoßen ist. Stößt mich beispielsweise auf einer Party jemand mit dem Ellenbogen an, sodass mir eventuell vor Schreck mein Glas aus der Hand fällt, denke ich drei Tage später Unverschämtheit! Hätte sich wenigstens entschuldigen können. Und von diesem Moment an wird es, passe ich nicht sehr gut auf meine Gedankengänge auf, rasch uferlos. Dann frage ich mich zum Beispiel, ob ich eventuell so aussehe, als ob man sich bei mir nicht zu entschuldigen brauchte. Ob diese Person mich vielleicht absichtlichgestoßen hat. Ob ich andere Menschen aggressiv mache mit der Art, wie ich rede, zu laut bin, oder ob es eventuell doch an meinem Aussehen liegt; habe ich den Ellenbogenstoß provoziert? Ist das auch anderen aufgefallen, werde ich deshalb nicht mehr so häufig eingeladen – und immer so fort. Meine Therapeutin, die ich nun schon beinahe so lange kenne wie Julia, hat mir den
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