Untitled
sich an schlechten Tagen als eine Szenenfolge in einem Film von Michael Haneke deuten. Wir gaben uns Rätsel auf, um in der Kürze der Zeit eine intensivere Beschäftigung miteinander zu erzwingen. Und die klaren Worte der schriftlichen Kommunikation produzierten rasend leicht Missverständnisse, die unter Zeitdruck und bei unvorhersehbaren Tagesabläufen nur provisorisch geheilt werden konnten. Was wollte ich eigentlich?
Mehr. Genauer konnte ich es mir nicht vorstellen. Lag eventuell am eigentlich. Mehr von allem. So stellte ich mir das Leben mit ihr schön vor. Zusammen verreisen. Zusammen aufwachen. Was essen. Schlafen. Endlich einmal wieder in ihren Armen.
Ohne einander: Das bedeutete Qual. Immerhin war es ja derselbe Himmel, dieselben Sterne, der Sonnenschein, zu dem wir hinauf- beziehungsweise auf den wir herunterschauten. Man konnte ja nie wissen, wohin man mit dem Planeten gedreht worden war.
Eines Nachmittags, als ich am Fenster stand, deutete eines der Schulkinder aus dem schattigen Dunkel der mittelalterlichen Gasse zu mir herauf: Schau, der dort oben raucht einen Joint. Darauf das Mädchen: Kenne ich. Macht mein Vater auch immer. Am Wochenende, wenn wir uns sehen. Und im Gehen pfiff das andere den Klingelton eines Telefons, das es bei ihrer Geburt schon nicht mehr gegeben hatte. Was mich allein von dem Malerischen der Szeneher auf den Grund meines Hierseins brachte, dass ich damit nun endlich anfangen müsste: Mit dem Anfertigen des Erinnerungsbildes im Stile Jan Vermeers.
Wenn wir uns schrieben, wenn wir unsere Fotos auf Instagram kommentierten, verwendeten wir die Anrede allenfalls akzentuierend. Es war doch klar, an wen man sich wandte. Das wurde wie Sprechen. Unter die sonnige Aufnahme eines unspektakulären Wipfels schrieb sie: Ich wollte dir das Licht kommunizieren. In manchen Zeilen lag die gesamte Person.
Einmal, in der Welt vor dem Großen Wasser, war ich auf Reisen gewesen, da war Julia mit ihrem Schlüssel in meine Wohnung gegangen und wir hatten über mein MacBook ein Videogespräch über Skype geführt. Das war unheimlich intim. Wirklich unheimlich. Ich ließ mir Dateien schicken von ihr zum Beweis, dass Zeit, Ort und sie wirklich eins waren. Es ging die ganze Nacht.
Dazwischen schliefen wir ein vor Erschöpfung, ließen die Monitore und Kameras aber laufen. Ich erwachte einige Augenblicke vor ihr. Mein Bildschirm war erfüllt von ihrem schlafenden Gesicht. Stendhals Abguss einer Hand Métildes war ein vergleichsweise schwaches Tool hinsichtlich dessen, was eine solide Datenleitung im Verbund mit geeigneten Geräten an Tröstendem zu leisten vermag.
Es gab einen stillen Moment, der ohne Worte auskam und dadurch eine Größe bekam, die Kunst war. In einer dieser Situationen, in denen ich am Rechner saß und eine Antwort wollte, aber nicht wusste, was ich fragen sollte. Ich hatte gesehen, dass sie auf Skype online war, also öffnete ich die Bedienfläche mit den Männchen und eine Blume ging für sie auf. Ihre Antwort war eine lachende Sonne. Mein Männchen gab einen Kuss. Ihres erwiderte das. Meines nickte. Ihres zwinkerte. Meines küsste. Ihreslächelte. Ich wählte einen zustimmenden Daumen. Ihres hob fragend die Brauen? Meines tat überrascht. Sie überlegte fragend. Ich zeigte eine Uhr, deren Zeiger sich übertrieben schnell drehten. Von ihr ging ein Gänsemarsch aus von eins, zwei, sechs – sieben Daumen, vom zustimmenden Modell, aufgereiht wirkten sie seltsam marschierend. Da musste ich lachen, gab das aber nicht preis.
Und all dies, eine ganze Welt mit eigener Sprache und Kultur, allesamt selbst erfunden und unseren Bedürfnissen angepasst, war aus jener Begegnung vor dem fremden Bücherregal entstanden. Alles entwickelte sich aus dieser einen Bewegung, einem Satz, irgendetwas Kleinem heraus, das in eben jenem Bruchteil des Augenblickes die Aufmerksamkeit erregt hatte und somit aus jenem Bruchteil des Geschehens vor der Entstehung des Erinnerungsbildes. Das Bild, das ich zu Malen beabsichtigte, sollte all dies enthalten können. Impuls wie Reaktion. Das Wesen des sich zueinander hingezogen Fühlens mit dem ersten Blick. Präzise: jenem, der als erster in unsere Erinnerung Eingang gefunden hatte.
Beim Besorgen der Materialien hatte ich kurz den Kauf eines weißen Kittels erwogen, das dann aber für epigonenhaft befunden und verworfen. Zum Malen zog ich stets dasselbe an: ein navyfarbenes T-Shirt, mit einem rostroten Sonnenkreis bedruckt (Entwurf von Dries van Noten, Erlös ging
Weitere Kostenlose Bücher