Untitled
scheinheilig nach meinem kranken Auge, aber ich hatte die Geste verstanden. Mein Körper war den tierischen Fetten dergestalt entwöhnt, dass ich von dem Genuss eines Cremekäses für Kinder krank wurde. Dabei stand das gut leserlich bereits auf der Schachtel des Produktes selbst, wurde von den Südfranzosen allerdings nicht als Warnung verstanden, eher als Aufforderung zu philobatischem Amusement: La vache qui rit.
Einmal die Woche sah ich meine Therapeutin im Skype-Telefonat. Doch es geschah, wie ich es in einem Buch gelesen hatte: Durch die niedrige Übertragungsrate der Bildleitung wird auch nur ein Bruchteil des Mienenspiels an das Gegenüber vermittelt. Dadurch teilten sich bloß noch abrupte Gefühlsregungen mit. Das Zusammenspiel stoppte. Man wurde sich fremd. Überhaupt sollte man sich nicht zu viel vornehmen. Bei Lichte betrachtet, gab es nur wenige Dinge, die man in seinem Leben überhaupt fertigbringen konnte. In dem Lichte betrachtet, in dem ich seit meinem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit alles zu sehen gezwungen war, erschien mir das Leben selbst bereits wie Krankenhaus, bloß halt ohne Krankenhaus drum herum. Man saß viel. Lag, in meinem Fall. Ich bettete, legte, lagerte mich. Essen. Trinken. Lesen. Schreiben. Spazieren gehen. Ich war arbeitsfähig.
Die Erfahrung einer temporären Amnesie hatte mir die Vorstellung aufgedrängt, ich wüsste nun, wie es war zu sterben. Nicht auf den Prozess des Sterbens bezogen, aber nun kannte ich wohl den Punkt, an dem die Wahrnehmung meines am Leben seins vorüber sein würde. Aus der Erinnerung. Denn es schien eine momentane Verzögerung zu geben, zwischen dem Eintreffen der sinnlichen Wahrnehmung und dem meiner Gewahrwerdung. Von dem Zeitpunkt an, da mein Körper von der Darling Street aufgelesen worden war, bis zu dem Augenaufschlagen auf dem Flur der radiologischen Abteilung, von wo aus ich die Nachricht an Julia schrieb, waren laut Krankenhausprotokoll vier Stunden vergangen. Relativ viele Stunden also, in denen ich, wie es ebenfalls den Protokollseiten zu entnehmen war, ansprechbar gewesen war und bedingt kooperativ. Man hatte mich wundversorgt und auf alle nur möglichen Weisen durchleuchtet und man konnte mir eine Kamerafahrt durch meinen in horizontalen Scheiben geschnittenen Kopfinnenraum zeigen, gehalten in Farben, die mich an Radioheadcover erinnerten. Das war alles ich gewesen, das war mein Körper, ich sah mein Hirn von innen, doch wusste ich von all den zugrunde liegenden Prozeduren nichts. Mir fehlte alle Erinnerung. Wäre ich auch nach Stunden nicht aus dieser Bewusstseinslosigkeit erwacht, sondern an dem prophezeiten Hirnschlag gestorben, dann wäre dies das Ende meiner Physis gewesen. Meine Seele wäre aber schon viel eher tot gewesen. Stunden vor meinem Erwachen auf dem Flur. Als ich Julia fest umarmte und wir uns Bis sehr bald ins Ohr flüsterten. Da hatte sie noch den Matchbeutel mit dem Dongazeug auf ihrem Rücken – für mich sah sie dann immer wie Obelix aus. Nach dieser Verabschiedung hatte ich mich auf mein Fahrrad geschwungen, ohne mich noch einmal nach ihr umzusehen. Den Liebenden: bitte stets so, als sei es das letzte Mal. Und vor jedem Abschied versöhnen, selbst wenn es sich nur ums nebeneinander Einschlafen handelt – n’importe quoi! Übrigens. Vom Fachmann für Kenner (wieso eigentlich Stammbuch?)
Der schönste Tag im Krankenhaus begann mit dem Nachmittag nach meiner Operation, als das Narkosemittel sich in einem extrem lang gedehnten Ausklingen befand. Eine Situation, die ein absoluter Quatsch wie Comfortably Numb von Pink Floyd vorgab zu vertonen. In Wahrheit tat das aber Carpet Crawlers von Genesis. Einmal hatte ich ein Theaterstück inszeniert, das war in Göttingen gewesen, da war meine einzige Inszenierungsidee, dass am Schluss der Logical Song von Supertramp läuft. Und dass es weiße, rote und navyfarbene Luftballons regnete. Wir würden denuns nachfolgenden Generationen wohl nie erklären können, welche unfassbar riesige Macht die Popmusik auf uns gehabt hatte. Wir wurden doch noch via Tele 5 an die Kultur herangeführt.
Und während ich lauschte, sah ich mich selbst in einem langen Schlauch aus elastischem Metall, der sich spiralförmig wand. Und der Schlauch war sehr dünn, bald wie ein Haar. Da passte ich durch.
Die Operation hatte mich ziemlich verändert. Vor allem äußerlich. Man stellt sich das falsch vor, es ist kein Make-up für die Szene: So wie man sich nach dem Erwachen sah, sieht man sich leider
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