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Untitled

Untitled

Titel: Untitled Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Bessing
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noch wochenlang. Es gab, farblich, ab und an Veränderungen. Zum Abschied sagte mir der Unfallchirurg noch: Fünf Kilo schwerer und Sie wären tot. Und als Kompliment: dass ich eine außergewöhnliche Anlage zur Zellgeneration besäße. Immerhin.
    Die Braue über dem in Mitleidenschaft gezogenen Auge war mir zur Hälfte abrasiert worden. Auch eine Erfahrung: dass Augenbrauenhaare anders schnell wuchsen als zum Beispiel Barthaare. Nämlich langsamer. Von mir aus hätte ich das niemals ausprobiert, mir einfach mal die Augenbraue abzurasieren wie David Bowie. Und dann auch noch teilweise – bei den Türkenboys sah man das manchmal, dass die sich Streifen oder Zickzackmüsterchen in die Augenbrauen rasierten. Zwar schrieb ich einst über Beauty, aber mit den Wuchsgeschwindigkeiten der Augenbrauen kannte ich mich nicht aus.
    Wenn ich unterhalb des nun so zu nennenden ursprünglichen Verlaufs meiner Augenbraue mit der Fingerspitze herumtastete, waren in dem geschwollenen Gewebe die vielen kleinen Schrauben unter meiner Haut zu spüren, von denen meine Gesichtsknochen zusammengehalten wurden. Die waren aus Titan, wie man mir sagte. Einmal rund umsAuge herum, auch den unteren Rand entlang, so als sei mir ein Brillengestell, ein innen zu tragendes, zerbrochen in viele kleine Stücke. Was man mir erst hinterher offenbarte: im Krankenhaus gab man mir bis zur Operation nichts zu essen und kaum was zu trinken, weil die davon ausgegangen waren, ich könnte jeden Augenblick einen Hirnschlag erleiden, und dann hieße das: Notoperation. Das war mir natürlich nicht klar gewesen, dass ich in einer solchen Lebensgefahr mich befunden hatte. Schwebenderweise. Julia auch nicht. Ich hatte es ihr auch nie offenbart.
    Die sagten einem übrigens nicht genau, was sie machen würden, wenn man erst eingeschläfert läge. Vermutlich weil jeder zweite sonst vorher in Panik aus dem Fenster spränge (ich auf jeden Fall). Man hatte mich zu einer generellen Schilderung des Vorhabens eingeladen, das lief über zwei Instanzen, zuerst erklärte mir der Anästhesist, welche Gifte er einzusetzen plante, dann: ins Büro des Chirurgen (Warum riechen die immer so gut? Wahrscheinlich vom vielen Händewaschen). Aber entweder hatte mir der das nur vage angedeutet, oder aber, und das kam mir vertraut und naheliegend vor: ich hatte ihm nur schlecht zugehört und seine Worte danach absichtlich vergessen. Die Schrauben oberhalb des Auges waren durch einen Schnitt im Verlauf der Augenbraue eingesetzt worden, davon zeugte eine Narbe (vgl. Knut Hamsun Auf überwachsenen Narben ). Die andere konnte niemand sehen, die verlief innerhalb meines Mundes zwischen Oberlippe und Zahnfleisch. Mit der Zungenspitze betastete ich die Schwellungen dort und den Catgut. Noch ekliger fand ich aber die Vorstellung, wie mir einer seine Gummihandschuhfinger durch diesen Schnitt und einmal quer unter meinem Gesicht hindurchschiebt, um die Unterkante meiner Augenfassung zu verschrauben. Unwillkürlich fiel mir aus dem Großen Bocuse die Abbildung zur Kalbsmaske in Halbtrauer ein. Und immer wenn mir das einfiel, und das war ziemlich oft, weil sich mir die Vorstellung sozusagen aufdrängte (also ich sie mir), dann ging ich hinunter in den drittobersten Raum zu dem Spiegel, der hinter der Tür zum Badezimmer gleich neben dem Bett dort wartete, und schaute mir in ein Gesicht, das nicht mehr meines war. Ich steckte da drin. Aber das war nicht mehr ich. Ich war auf der anderen Seite des Großen Wassers geblieben. Da käme ich nun im Leben nie wieder hin.
    Welches Organ war denn eigentlich verantwortlich für die Rückstellung jenes bestimmten Teiles meines körpereigenen Wasserhaushaltes zwecks der Produktion von Tränen. Auch das Gehirn? Ich stellte mir vor, dass durch eine Praxis der Lebensführung, die tägliches Weinen zum Inhalt hat, die gehirnliche Regelung des Wasserhaushaltes flexibel sich umstellte auf eine Erhöhung der Tränenflüssigkeitsproduktion. Dass diese Pegelstandserhöhung im Tränenreservoir allerdings dann im Gegenzug auch das Weinen erleichterte. Konkret: dass es eine Rückmeldung vom Tränendepartement ans Bewusstsein gab, das Sentimentale ruhig ein bisschen noch hochzufahren. Was dann wiederum – und so fort. Nannte sich: Nah am Wasser gebaut. Wozu mir dann gleich die Königskinder einfallen wollten. Und Julia. Und schon ging es von vorne los.
    Draußen donnerte die südfranzösische Sommerhitze aus vollem Rohr und die Tauben gurrten und weiter unten rauschte das Meer,

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