Untitled
spielen. Er geht nicht gleich an Bord, er will nicht, daß der Kommandant ihn ausgelaugt und nervös sieht. Er verbringt an die zwei Stunden in der Nähe, kauft sich Brot und Brei aus Kichererbsen, um den Hunger unter Kontrolle zu halten, und danach, mit einem rosigeren Gesicht, tritt er dem Kommandanten gegenüber.
»Papà hat mir die Erlaubnis gegeben! Er selbst hat mich auf den Zug gesetzt!«
Der Kommandant kennt Luigino, er hat immer gesehen, wie er sich im Hause Pirandello verhält: ein verständiger, gehorsamer Junge, respektvoll gegenüber dem Vater. Außerdem weiß er, daß die Sache mit den Verwandten in Genua stimmt. Er beruhigt sein Gewissen und läßt Luigino einschiffen, ohne seine Anwesenheit an Bord den Hafenbehörden mitzuteilen.
Er wird in der Kabine des Kommandanten als Gast aufgenommen. Dort steht ein Etagenbett mit jeweils zwei Schlafplätzen.
In der ersten Nacht versinkt Luigino in einen bleiernen Schlaf, wohl wegen der Unvertrautheit des Ortes, der Müdigkeit, vielleicht auch wegen der nachlassenden nervösen Spannung, vielleicht aber auch wegen der Zufriedenheit, daß es ihm gelungen ist, dem väterlichen Zorn zu entgehen. In der zweiten Nacht übermannt ihn, gerade als er die Augen zumachen will, der Gedanke an die Mutter, an die schreckliche Sorge, die er ihr bereitet. Diese Nacht verbringt er wachend. Das Schlimmste aber kommt in der folgenden Nacht, als er die Tränen nicht mehr zurückhalten kann. Von Schluchzen geweckt, gewinnt der Kommandant gleich die Überzeugung, daß die Dinge sich nicht so verhalten, wie Luigi sie ihm erzählt hat. Er überhäuft ihn mit Fragen, und der Junge erzählt ihm endlich die Wahrheit.
Gleich nach dem Anlegen des Schiffes in Genua, telegraphiert der Kommandant Don Stefano. Es ist ein langes Telegramm, in dem der arme Mann erklärt, wie Luigino ihn durch eine Täuschung überzeugt habe und die Absicht verfolge, die Schule in Como weiterzumachen, wo weitere Verwandte wohnen. Don Stefanos Antwort fällt völlig anders aus, als die beiden es erwarten: der Vater ist einverstanden, daß Luigino nach eigenem Gutdünken weitermachen soll.
In Como blieb Luigino bis zur dritten Gymnasialstufe. Danach kehrte er nach Sizilien zurück, genauer gesagt nach Palermo, wohin die Familie inzwischen umgezogen war, um dort seine höhere Schulausbildung weiter zu betreiben.
EINE VARIANTE
Diese Geschichte von der Flucht mit dem Schiff vor dem Zorn des Vaters erzählte Luigi Pirandello in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts, als er bereits Schriftsteller war, mit vielen Einzelheiten seinem Freund Pio Spezi. Dieser machte sie vierzig Jahre später, aus Anlaß der Verleihung des Nobelpreises an Pirandello, in einer römischen Tageszeitung bekannt. Pirandello reagierte entrüstet und dementierte die gesamte Grundhaltung dieser Geschichte. Spezi war darüber enttäuscht, denn diese Geschichte hatte ihm der junge Pirandello selbst erzählt. Tatsache ist, daß die Flucht zu Schiff nur eine phantastische Variante war: es ist absolut gesichert, daß der kleine Luigi sich nicht heimlich einschiffte, es ist absolut gesichert, daß er seinen Fuß nicht ins Gymnasium von Como setzte. Das beweisen die Klassenbücher des Gymnasiums von Girgenti.
Also, warum dann? Die Erzählung hat zahlreiche Brüche: unter anderem präsentiert sie uns einen leichtgläubigen Kommandanten, der aber niemals den minderjährigen Sohn eines Freundes heimlich eingeschifft hätte. Doch der offensichtlichste Bruch, der vor allem den phantastischen Charakter der Variante bloßlegt, tritt in der Nachgiebigkeit Don Stefanos angesichts der Flucht und der Entschlossenheit des kleinen Luigi zutage, seine schulische Weiterbildung in Como fortzuführen.
In der Erzählung biegt Luigino den Willen des Vaters für seine Bedürfnisse zurecht, der vertauschte Sohn beweist, daß er zu völliger Autonomie in der Lage ist, die den Beginn des Weges zu seiner Selbstentdeckung darstellt. Vierzig Jahre später ist die Beziehung zum Vater eine andere geworden, eine wesentlich andere, und Pirandello erkennt sich in der phantastischen Variante nicht mehr wieder.
»BARBAR«
Im Hause Pirandello wurde, wie gesagt, nicht gelesen. Der junge Luigi aber, schon frühzeitig von Büchern angezogen, entdeckt in unmittelbarer Nähe der elterlichen Wohnung einen Papier- und Buchladen, in dem man Romane als Einzelhefte in Fortsetzungsfolge kaufen kann. Das Geld, das der Vater ihm wöchentlich gibt, fließt zum
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