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leidenschaftlich sein.»
«Leidenschaft, so glaube ich, steht da drüben imMoment auch zur Debatte», antwortete Monsieur Daumier.
«So, wie ich das sehe, ist sie eine Geliebte und keine Ehefrau – oder, besser gesagt, denn sie ist ja offensichtlich verheiratet, zumindest nicht seine Frau. Wenn überhaupt eine Verallgemeinerung über die Engländer zulässig ist, dann die, daß sie ihre Ehefrauen als eine Selbstverständlichkeit ansehen. Engländer verzichten darauf, die Blume der Leidenschaft mit ihrer Gartenschere zu pflegen. Sie lassen die Blume einfach wild wuchern, bis von ihr eines Tages nur noch gemäßigte Zuneigung übrig ist, die wohl ihre Früchte trägt und ein Produkt der Natur ist, aber ganz gewiß keine Zierde. Sie müssen sie nur einmal beobachten, wenn sie miteinander sprechen. Entweder sie hören ihren Ehefrauen überhaupt nicht zu, oder sie sind allenfalls mit einer intelligenten Höflichkeit bei der Sache, die man einer geschwätzigen Zufallsbekanntschaft zuteil werden läßt. Ce monsieur là-bas ist auch unaufmerksam, aber aus einem anderen Grund: Er ist von den persönlichen Reizen der Dame gefangen, und seine Gedanken sind auf künftige Freuden gerichtet. Er ist, wie man bei Ihnen sagt, über beide Ohren verliebt – und soweit ich das bisher beobachtet habe, kann ein Engländer diesen Zustand einfach nicht verbergen. Anders als wir Franzosen läßt er nicht jeder Frau schon aufgrund ihres Geschlechts gewissenhafte Aufmerksamkeit zukommen. Wenn er sich dazu hinreißen lassen sollte, so etwas wie Hingabe an den Tag zu legen, dann hat er immer besondere Gründe dafür. Ich wage die Hypothese, daß wir es hier mit zweien zu tun haben, die durchgebrannt sind, auf jeden Fall handelt es sich um ein Abenteuer; eine Affaire vielleicht, die er in London verheimlichen müßte. Hier, in unserem verruchten Paris, kann er sich ohne Scham gehen lassen.»
«Ich stimme Ihnen soweit zu», meinte Mr. Delagardie, «daß es sich hierbei wirklich nicht um das typische englische Ehepaar handelt. Und es stimmt auch, daß der Engländer, einmal auf dem Kontinent, die Konvention der englischen Reserviertheit fahrenläßt – Tatsache ist, daß das sogar ein Bestandteil ebendieser Konvention ist. Aber Sie sagen gar nichts über die Dame.»
«Sie ist auch verliebt, aber gleichzeitig ist sie sich des Opfers bewußt, daß sie gebracht hat. Sie macht ihm kein geringeres Angebot als ihre Kapitulation, und trotzdem versteht sie es, sich den Hof machen zu lassen. Denn schließlich wird derjenige, der am meisten aufs Spiel setzt, ihr Ja erringen. Wenn sie sich aber einmal hingibt, dann rückhaltlos. Der braungebrannte Gentleman ist wirklich zu beneiden.»
«Ihre Beobachtungen sind überaus interessant», erwiderte
Mr. Delagardie. «Dies um so mehr, als sie weitgehend nicht zutreffen, wie ich zufälligerweise weiß. Aber wie Sie ganz richtig sagen, die Engländer können einen erstaunen. Was halten Sie denn zum Beispiel von dem so ganz anderen Paar in der Ecke gegenüber?»
«Der blonde Diplomat mit dem Monokel und die resolute Brünette im orangen Taft?»
«Genaugenommen ist er kein Diplomat, aber das ist der Mann, den ich meine.»
«Bitte», sagte Monsieur Daumier mit mehr Überzeugung in der Stimme, «da haben Sie das englische Ehepaar par excellence. Sie sind aus sehr gutem Stall, der Mann besonders, und sie geben dem ganzen Saal eine Lektion in Tischmanieren. Beim Bestellen zieht er sie zu Rate, gibt acht, daß sie auch bekommt, was sie wünscht, und bestellt sein eigenes Essen nach seinem Gusto. Wenn sie ihre Serviette fallen läßt, hebt er sie für sie auf. Wenn sie spricht, hört er zu und antwortet angemessen, doch immer mit einem unerschütterlichen Phlegma und fast ohne sie dabei anzusehen. Er ist der vollkommene Kavalier, und es ist ihm alles vollkommen gleichgültig, und dieser herzerweichenden Selbstbeherrschtheit setzt sie eine Kälte entgegen, die der seinen in nichts nachsteht. Sie kommen zweifellos gut miteinander aus, und schon aus Gewohnheit herrscht zwangsläufig sogar ein gewisses Einvernehmen, denn ihr Gespräch plätschert ohne große Pausen ruhig dahin. Denn wenn die Engländer jemanden nicht mögen, fangen sie selten an zu schreien: Sie verfallen in Schweigen. Diese beiden hier streiten sich weder in der Öffentlichkeit noch hinter verschlossenen Türen, da bin ich sicher. Sie sind schon so lange miteinander verheiratet, daß jedes leidenschaftliche Gefühl, das sie einmal füreinander
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