Untitled
empfunden haben mögen, längst abgestorben ist. Vielleicht war da aber auch nie allzu viel, denn schließlich sieht sie nicht gerade besonders gut aus, und er macht den Eindruck eines Mannes, der einen gewissen Wert auf Schönheit legt. Möglicherweise ist sie reich gewesen, und er hat sie wegen ihres Geldes geheiratet. Und mit einiger Sicherheit gönnt er sich seine Eskapaden, wie es ihm beliebt, und um der Kinder willen schickt sie sich in die Situation, solange seine Untreue nicht zum Stadtgespräch wird.»
Mr. Delagardie goß noch ein wenig Burgunder in beide Gläser, bevor er antwortete.
«Sie haben den Mann einen Diplomaten genannt», sagte er schließlich. «Und Sie haben den überzeugenden Beweis erbracht, daß er zumindest nicht seine ganze Lebensgeschichte offen auf seinem Gesicht herumträgt. Zufälligerweise kenne ich beide Paare einigermaßen gut und bin in der Lage, Sie in dem zu korrigieren, was die bloßen Tatsachen angeht.
Also, zum ersten Paar: Der Mann ist Laurence Harwell, der Sohn eines sehr vornehmen und reichen Anwalts der Krone, der vor ein paar Jahren starb und seinem Sohn ein sehr stattliches Vermögen hinterlassen hat. Obwohl er in der üblichen Landhaus- und Privatschulumgebung aufgewachsen ist, ist er kein übermäßig großer Anhänger des Sports im englischen Sinne. Den Großteil seiner Zeit verbringt er in London und versucht sich ein wenig in der Finanzierung von Theaterprojekten. Daß er etwas Farbe hat, kommt daher, daß er gerade aus Chamonix kommt, aber ich glaube, er wollte damit eher der Dame als sich selbst einen Gefallen tun. Diese, weit davon entfernt, seine Geliebte zu sein, ist wirklich und wahrhaftig seine Ehefrau, und sie hatten kürzlich ihren zweiten Hochzeitstag. Sie gehen recht in Ihrer Annahme, daß die beiden ganz außerordentlich verliebt ineinander sind, denn diese Heirat war eine extrem romantische Angelegenheit. Die Opfer, gleichwohl, hatte er zu bringen und nicht sie – will sagen, sofern man überhaupt von einem Opfer sprechen kann, wenn ein Mann eine ausgesuchte Schönheit als Ehefrau für sich gewinnt. Ihr Vater war in gewisse betrügerische Transaktionen verwickelt, die ihn von einem beträchtlichen Wohlstand in die Armut stürzten und einen kurzen Aufenthalt im Gefängnis zur Folge hatten. Rosamund, seine Tochter, war gezwungen, eine Stellung als Mannequin in einem vielbesuchten Modesalon anzunehmen, bis Harwell auf der Bildfläche erschien, um sie zu retten. Sie werden oft das romantischste – manche gehen so weit zu sagen, das einzige – verheiratete Liebespaar in London genannt. Sie haben freilich noch keine Kinder, daher rührt vielleicht der Umstand, daß die Blume der Leidenschaft noch nicht verwelkt ist. Wenn sie nicht zusammen sind, dann sind sie auch nicht glücklich – und das mag auch gut sein, da beide, wie ich glaube, einen Hang zur Eifersucht haben. Es versteht sich von selbst, daß sie zahlreiche Verehrer hat. Die kommen allerdings nicht recht zum Zuge, denn mit Ausnahme des einen lassen alle ihr amouröses Temperament kalt.»
«Ich muß mich wiederholen», sagte Monsieur Daumier, «Mr. Harwell ist zu beneiden. Die Geschichte ist in der Tat romantisch, aber anders, als ich angenommen hatte.»
«Und doch, im wesentlichen», fuhr Mr. Delagardie fort, «hatten Sie nicht völlig unrecht. Die Beziehung zwischen den beiden ist im Grunde die von Liebhaber und Geliebter und nicht die zwischen Ehemann und Ehefrau. Das andere Paar ist wohl geheimnisvoller und vielleicht sogar romantischer.
Der Mann ist gewiß von guter Herkunft, er ist der zweite Sohn des dahingeschiedenen Herzogs von Denver und, wie das Leben so spielt, mein Neffe. Er hat sich unter anderem auch in der Diplomatie versucht, aber das ist nicht sein Beruf. Wenn er denn überhaupt einen Beruf hat, so ist es die Kriminologie. Schönheit bedeutet ihm etwas bei altem Wein und alten Büchern, und zeitweise hat er sich als beachtlicher Connaisseur auf dem Gebiet der holden Weiblichkeit hervorgetan. Seine Frau, die da drüben mit ihm am Tisch sitzt, ist eine Schriftstellerin, die bislang für ihren Lebensunterhalt selbst aufkam. Vor ungefähr sechs Jahren wurde sie, zu einem gut Teil durch sein Eingreifen, vom Vorwurf freigesprochen, ihren Liebhaber er mordet zu haben. Bei meinem Neffen war es Liebe auf den ersten Blick: Seine Werbung um sie hat er geduldig, aber zielgerichtet gute fünf Jahre durchgehalten. Im letzten Oktober haben sie geheiratet und sind soeben erst aus den
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