Untitled
sich gegenseitig alles an. Sie waren unzertrennlich, in Vigàta nannte man sie nur »Castor und Pollux«. Zu jedem Augenblicke waren sie bereit, einander zu beschützen, zu jedem Augenblicke bereit, alles miteinander zu teilen, Brot, Geld, das Glück. Als Genuardi heiratete, verschuldete sich La Ferlita bis zum Halse, um den Brautleuten ein kostbares Geschenk zu machen. Als La Ferlita krank wurde, wachte Genuardi Tag und Nacht über ihn. Ach, die Freundschaft! Dieses Gottesgeschenk, dessen sich nur die Menschen auf Grund der Güte unseres Schöpfers voll und ganz auf der Erde erfreuen können! Erinnern Sie sich Ciceros, des großen Cicero? »Quid dulcius quam habere, quicum omma audeas sic loqui ut tecum?« Basta! Ich will mich nicht von Gefühlen hinreißen lassen, noch will ich Sie von Gefühlen wegreißen lassen. Und daher war es, angesichts all des Gesagten, nur natürlich, daß mein Mandant seinen Freund besuchen ging, den er schon so lange nicht mehr gesehen hatte. In der Nähe des Portales angekommen, sah er, daß sein Freund aus dem Hause herausgerannt kam. Warum rannte La Ferlita? Ganz sicher nicht, um der Begegnung mit Genuardi auszuweichen, den er im übrigen auch gar nicht bemerkt hatte, sondern weil er beträchtlich verspätet war für ein tags zuvor verabredetes Treffen mit Signor Galvaruso Amilcare. Der nämliche Galvaruso hat unter Eid bestätigt, daß dies die Wahrheit sei. Ich muß, so leid es mir tut, hier eine Zwischenbemerkung einfügen. Der Chronist der hiesigen Tageszeitung hat, als er über dieses Ereignis berichtete, geschrieben, daß La Ferlita anfing zu rennen, sobald er erkannt hatte, daß Genuardi sich dort aufgestellt hatte. Da sehen Sie, Signori dieses Hohen Gerichtes, wie die Fakten verfälscht werden! Da sehen Sie, wie die Presse die Wahrheit verbiegt und in der öffentlichen Meinung Schwaden von Schuldhaftigkeit erzeugt, noch bevor die Fakten überhaupt geklärt sind. Und diese Handlungsweise bar jeder Verantwortung bereitet den fruchtbaren Humus für den Justizirrtum. Und erlauben Sie mir, Sie nur ganz beiläufig daran zu erinnern, daß der, welcher hier zu Ihnen spricht, ganze zwei Male selbst das Opfer eines Justizirrtums war und unschuldig im Gefängnis einsaß, doch am Ende hat die Gerechtigkeit die Wahrheit wiederherzustellen vermocht, und ich, ein unschuldiger Ex‐Angeklagter, stehe hier, um einen anderen Unschuldigen vor einem Justizirrtum zu schützen, ich, der ich am eigenen Leibe und im eigenen Gemüte die schreckliche Wunde der verweigerten Schuldlosigkeit zu spüren bekommen habe. Ende der Zwischenbemerkung.
Also, ich sagte, daß Genuardi, als er in die Nähe des Portales kam, sah, wie sein Freund im Laufschritt das Haus verließ. Er war schon im Begriff, ihn zu rufen, als er, zu seinem Entsetzen, sah, wie ein scheuendes, an einen schweren Karren gebundenes Pferd direkt auf La Ferlita zuhielt, welcher unterdessen gestolpert und auf die Erde gestürzt war. Blitzartig, um noch Schlimmeres zu verhindern, zog Genuardi, beim Versuch, das Pferd in seinem mörderischen Galopp aufzuhalten, seinen Revolver und feuerte einen Schuß in die Luft. Leider, leider setzte das Pferd, trotz des Schusses, seinen verhängnisvollen Galopp fort.
Das ist alles! Dies ist die eindeutige, unmißverständliche Wahrheit. Ah, ich habe verstanden! Unter Ihnen gibt es den einen oder anderen, der sein Lachen kaum zurückhalten kann. Schon verstanden. Ich errate bereits, was der eine oder andere unter Ihnen mich fragen will: »So nicht, teurer Advokat Rusotto, du erzählst uns die Sache nicht so, wie sie sich abgespielt hat! Wie kommt es denn, daß die Kugel ins Bein des auf der Erde liegenden La Ferlita drang, wenn Genuardi in die Luft geschossen hat?« Glauben Sie mir, Signori dieses Hohen Gerichtes, Sie stellen mir eine Frage, die ich als erster mir in langen qualvollen Nächten gestellt habe. Und sich selbst hatte Genuardi die gleiche Frage mit unendlicher Zerrissenheit gestellt. Signor Presidente! Signori dieses Hohen Gerichtes!
Die unbestreitbare Antwort auf diese quälende Frage ist mir erst vorgestern durch den Scharfsinn und durch die Wissenschaft des überaus angesehenen Professors Aristide Cusumano‐Vito gekommen, dieser außergewöhnlichen Kapazität auf dem Gebiete der Ballistik. Professor Cusumano‐ Vito ist, wie wir alle in diesem Hohen Gerichte wissen, auf Grund eines Leberzirrhoseleidens vor nunmehr zwei Wochen für immer von uns gegangen. Doch wollte er das Gutachten
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