Untreu
nichts Falsches sagen.«
»Und wohin? Die Stiche meine ich.«
Fischer griff nach dem vorläufigen Sektionsprotokoll. »Ich hab die anderen übrigens schon mal losgeschickt. Ich hoffe, das war in deinem Sinn.«
»Sicher, warum nicht?«
Fischers kleines quadratisches Büro ging zum Hauptbahnhof hinaus. Der dröhnende Stop-and-go-Verkehr an der Ampel direkt unter dem Fenster, das aufdringliche Gebimmel der Straßenbahn, das kreischende Bremsgeräusch der blockierten Räder auf den Schienen, all das fiel einem immer besonders auf, wenn man länger nicht hier gewesen war. Wenn man noch Meeresrauschen in den Ohren hatte und ab und zu das vielstimmig klagende Geschrei der Möwen auf Futtersuche.
»Ich hasse diesen Lärm«, sagte Mona.
Fischer grinste sie an, zum ersten Mal an diesem Tag. Wenn er lächelte, sah er sehr gut aus. Vielleicht sollte man ihm das mal sagen, vielleicht würde er es dann öfter tun. Er bildete sich eine Menge ein auf seinen Schlag bei Frauen.
»Wie war dein Urlaub?«, fragte er und hörte sich tatsächlich interessiert an. »Du bist ja richtig braun.«
»Danke. Es war schön. Lukas hat sich auch wieder ganz gut erholt.«
»Wovon erholt?«
In einem Anfall von Vertraulichkeit hatte Mona ihm einmal von Lukas' Problemen erzählt. Er hatte es vergessen.
»Schulstress«, sagte sie.
»Und da wart ihr zwei also ganz allein in Griechenland.«
»Genau.«
»Wie ist das eigentlich so... Ich meine so als... als...«
»Als allein reisende, allein erziehende Mutter, ganz allein mit ihrem Sohn unter heißer südlicher Sonne?«
Fischer wurde rot. »Du weißt schon, was ich meine.«
»Es ist ganz okay. Unproblematisch. Die Griechen beachten Frauen nicht, die mit Kindern unterwegs sind. Du bist wie ... nicht da.«
»Mhm.« Fischer machte ein unbehagliches Gesicht, wie immer, wenn ihr Gespräch den privaten Bereich streifte, was ja ohnehin fast nie passierte. Mona jedenfalls wusste von Fischer kaum mehr als seine Adresse und dass er eine Lieblingsband hatte, die sich Prodigy nannte. Sie wechselte das Thema.
»Warst du bei der Sektion dabei?«
»Ja.« Erleichtert, dass sie gefährliches Gelände hinter sich gelassen hatten, blätterte Fischer in Herzogs Protokoll.
»Was ist das für eine Geschichte mit diesem Toten?«, fragte Mona.
»Martin noch nicht gesehen?«
»Berghammer? Der ist nicht da, sagt Lucia. Kommt in einer Stunde.«
»Du weißt noch gar nichts, richtig?«
»Im Wesentlichen, dass ihr mitten in der Nacht einen Garten umgegraben habt.«
Ich habe kein schlechtes Gewissen, und das ist das Merkwürdigste an dieser ganzen seltsamen, traurigen, schönen, verrückten Geschichte. Es ist so, als hätte ich dich verdient: die Freude, die du mir schenkst, die Ängste, die mich überfallen, sobald wir ein paar Tage nichts voneinander hören, der Schmerz, wenn mir klar wird, dass meine Gefühle dich nicht so erreichen, wie ich es gerne hätte. Und dann wieder die irrsinnige Hoffnung, dass wir doch eines Tages alles miteinander teilen können. Ich habe dich verdient, aber dein Preis ist hoch. Deine Liebe ist Glück und Strafe zugleich.
Der Gang zu deiner Wohnung: Das ist die Strafe. Ich habe sie mir selbst auferlegt. Ich ziehe sie absichtlich in die Länge. Jedes Mal möchte ich kurz vor der Eingangstür kehrtmachen, mich zurückbeamen lassen in mein altes, freundliches, unspektakuläres Dasein. Das Haus, in dem du lebst, ist nicht einfach nur schmutzig, ärmlich und hässlich. Damit würde ich zurechtkommen. Aber dieses Haus hat den Charakter seiner Bewohner angenommen, es sondert Gefühle ab wie Zorn, Furcht, Aggression, Gier, Ärger und eine spezielle Sorte von Resignation. Wer in dieses Haus zieht, hat alles probiert, hat gekämpft und geschuftet und dennoch nichts zu Wege gebracht. Das Haus ist der real existierende Gegenbeweis der These, dass man schafft, was man sich vornimmt, wenn nur der Wille stark genug ist. Euer Wille, das sehe ich und spüre ich, war einmal stark und ist jetzt gebrochen, und das Haus hat seinen Teil dazu geleistet. Das Haus schluckt euch, eure Hoffnungen und Pläne, und irgendwann, wenn es euch noch schlechter geht, wird es euch wieder ausspucken. Leere Hüllen werdet ihr dann sein, ohne Mut und Kraft, ohne Visionen, ohne Liebe.
Als ich dich das zweite Mal besuchte, hatte es nachts ein wenig geschneit. Ich denke, es war Ende Oktober, Anfang November. Ich stand am Wohnzimmerfenster, wie so oft. Ich hatte die Pflanzen gegossen, den Giftefeu, das Orangenbäumchen, den
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