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Untreu

Titel: Untreu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa v Bernuth
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mindestens so schlimm war wie das erste Mal.
    Und trotzdem wusste ich in der Sekunde, als ich dein Gesicht sah, dass alles richtig war und gut werden würde. Es
musste
einfach so sein. Wir waren uns das schuldig, verstehst du?
    Deine Lippen. Sie schmeckten nach Tabak und Honig. Wenn ich Zigarettenrauch rieche, muss ich an dich denken, und ich hoffe, dass mir niemand ansieht, was ich denke.
    »Ein Laie«, sagte Herzog. »Schätze ich.«
    »Wer? Der Täter?«
    »Ja, sicher. Wer sonst?« Herzog war kleiner als Mona, aber er hatte etwas an sich, das ihn, wenn schon nicht größer, so doch präsenter und stärker wirken ließ.
    »Kann ich ihn sehen?«
    »Jetzt gleich?«
    »Moment noch.«
    Sie saßen in Herzogs geräumigem Büro, das eingerichtet war, wie Mona sich die Bibliothek eines Landhauses vorstellte. Alle Wände bis unter die Decke mit Regalen voller gewichtig aussehender fettleibiger Bücher. Sie atmete tief durch.
    »Hören Sie, Frau Seiler, ich hab noch einen Termin. Also wenn Sie die Leiche sehen wollen, müssten wir ...«
    »Ja. Entschuldigung. Wir können los.«
    Sie standen auf. Herzog ging mit seinen forschen, breitbeinigen Schritten voran und hielt ihr die Tür auf. Draußen war es bereits dunkel geworden. Stürmisch. Regnerisch. Die Sonne Griechenlands, die Hitze, der Sand, das Meer, Anton - alles schien so weit weg wie ein Traum. Unwillkürlich ging Mona langsamer. Die quadratischen Deckenleuchten im Gang, das funzlige Licht, das sie verbreiteten, der geflammte Linolboden, der bräunliche Wasserschaden an der linken Wand kurz nach Herzogs Büro - sie kannte jeden Meter im Institut. In zehn, zwanzig Jahren würde sie hier immer noch entlanglaufen, mindestens einmal pro Woche, eher zwei- oder dreimal.
    In zwanzig Jahren. Dann war sie Ende fünfzig.
    Herzog wartete auf sie am Aufzug, die Hände in den Taschen seines weißen Kittels. Wie immer, wenn er es eilig hatte, wippte er auf Fußballen und Fersen hin und her. Bei jedem anderen mit einer ähnlich gedrungenen Statur hätte das lächerlich ausgesehen, bei ihm wirkte es dynamisch. Als Mona ankam, schloss er die schwere Metalltür auf, mit der der Lift gesichert war. Sie betraten die Kabine.
    »Wie war der Urlaub? Sie waren doch in Urlaub, richtig?«
    »Ja, war ich. Danke. Sehr schön.«
    »Das glaub ich Ihnen. Schön braun geworden. Sollten Sie sich öfter leisten.«
    »Tja. Sie wissen ja, wie das ist.«
    »Sie müssten doch Überstunden en masse abfeiern können.«
    »Tun Sie doch auch nicht.«
    Herzog lächelte und antwortete nicht. Seine schwerlidrigen braunen Augen wichen ihr aus, seine Miene verzog sich ungeduldig.
    Der Aufzug hielt zwei Stockwerke tiefer, und Mona wappnete sich für den Anblick, der ihr bevorstand. Ihr wurde von nichts mehr übel, auch von den scheußlichsten Verletzungen, den ekelhaftesten Fäulnisveränderungen nicht. Sie träumte auch nicht mehr von dem, was sie beschönigend ihren Job nannte.
    Aber da gab es eben doch Spuren, die die vielen, vielen Toten hinterließen. Man konnte sie nicht benennen. Sie waren wie Schatten, die sich über die Welt legten und ihr die Farbe nahmen. Wie eine besondere Form der Trauer, geboren aus einem Gefühl der Vergeblichkeit. Was war das Leben wert, wenn danach nichts übrig blieb? Nichts außer einigen Erinnerungen, die noch dazu alles andere als fälschungssicher waren.
    Es gibt Fotos,
dachte Mona nicht zum ersten Mal
. Immerhin was.
    Sie hatte Fotos von dem Toten gesehen als er noch gelebt hatte - vielmehr von dem Mann, von dem sie
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
vermuteten, dass er der Tote war. Thomas Belolavek hatte gut ausgesehen. Fit und gesund. Vielleicht nicht besonders sympathisch mit seinen dünnen Lippen und seinem hageren, knochigem Gesicht, aber eindeutig lebendig. Herzog drückte auf einen Zentralschalter im Lift, und eine nach der anderen flammten die blendend hellen Lampen in dem beige-weiß gekachelten Gewölbe auf. Mona kniff die Augen zusammen. Langsam folgte sie Herzog.

Kapitel 4
    Man hörte das kreischende Bremsen der Straßenbahn und das Zischen der Autoreifen auf nassem Asphalt. Es regnete schon wieder oder immer noch. Es schien nicht mehr aufhören zu wollen. Keiner der Anwesenden achtete darauf, außer Mona, die noch auf dem Rückflug auf einen goldenen Herbst gehofft hatte, auf lange Spaziergänge mit Lukas in einer klaren Oktobersonne, die das Laub rot aufleuchten ließ. Sie sah zur fast durchgehenden Fensterfront, in der sich der Konferenzraum

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