Unwiderstehliches Verlangen
sich diese Dinger in der Luft halten können.« Früher einmal hatten sie solche dummen Bemerkungen so gereizt, daß sie manchmal nahe daran gewesen war, in Tränen auszubrechen. Jetzt waren sie ihr wegen ihrer Einfalt gerade recht. Sie mochte Chandler, sie mochte die Menschen, die dort lebten, Menschen, die in ihrem Leben nichts Besonderes leisteten, außer daß sie die Dinge in Gang hielten.
Und ausgerechnet hier, in dieser verschlafenen Kleinstadt, mußte ihr ein Mann begegnen, dem es gelang, was keinem anderen Mann seit Charley mehr gelungen war: Er hatte ihr Interesse geweckt.
Den Donnerstag benutzte sie zum Großreinemachen in ihrem Haus. Am Freitag ging sie einkaufen. Sie gab doppelt so viel aus, als sie sonst in einem Vierteljahr für Kleidung auszugeben pflegte. Doch zu Hause gefiel ihr nichts mehr von all dem Zeug, das sie gekauft hatte. Als sie ihren Kleiderschrank inspizierte, fielen ihr Sachen in die Hände, die sie seit Jahren nicht mehr getragen hatte. Noch immer war sie unschlüssig, ob sie sich wie eine gutmütige Hausfrau oder wie eine weltkundige Frau mit Sex-Appeal geben sollte. Oder vielleicht wie »ein Filmstar in seinem Heim« mit maßgeschneiderten langen Hosen und einem Seidenhemd?
Am Samstagmorgen war sie sicher, daß ihr ganzes weiteres Leben von diesem Nachmittag abhing.
Dann konnte sie anziehen, was sie wollte — möglicherweise war es so oder so verkehrt. Beim Erwachen ärgerte sie sich über sich selbst. Wie kam sie dazu, sich wie ein liebeshungriges Mädchen aufzuführen? Aus einer Mücke einen Elefanten zu machen? Vielleicht würde dieser Mann gar nicht kommen. Aber gesetzt den Fall, er kam doch, dann konnte es ihn nur peinlich berühren, wenn sie sich so aufgedonnert hatte, als wollte sie zu einem Schultanzfest. Wenn er nun selber in Arbeitskleidung kam, so als wollte er einen Flugzeugmotor reparieren oder sonstwas, wonach ihm der Sinn stand? Und was war, wenn er überhaupt nicht kam?
Sie ging in das zu einer Flugzeughalle umgebaute ehemalige Lagerhaus und versuchte, den zertrümmerten Propeller von ihrem Flugzeugwrack abzumontieren. Gleich zu Beginn ließ sie den Schraubenschlüssel fallen, riß sich einen halben Fingernagel ab und schnitt sich in einen anderen rotlackierten Nagel. Sie hielt die Hände ans Licht, betrachtete sie und schnitt eine Grimasse. Da hatte sie nun wirklich schöne Hände, und jetzt das. Achselzuckend sagte sie sich: Vielleicht ist es am besten, wenn ich gar nicht erst versuche, Eindruck auf ihn zu machen.
Jackie stand im fleckigen Overall, der früher einmal dezent grau gewesen war, auf der Leiter und setzte zum wiederholten Mal den Schraubenschlüssel an der Nabe des verbogenen Propellers an. Während sie die Haare aus dem Gesicht strich, wobei ihre Hand eine breite Ölspur auf der Wange hinterließ, sah sie sich um und erblickte ein Paar Männerfüße, die in teurem Schuhwerk steckten.
Als sie sich das Gesicht rasch am Ärmel ihres Overalls abwischte, wurde die Schmiere allerdings eher mehr als weniger. Dann schaute sie wieder nach unten. Dort stand ein gutaussehender junger Mann und schaute zu ihr herauf. Er war großgewachsen, hatte dunkles Haar und dunkle Augen und sah sie mit so großer Ernsthaftigkeit an, als erwarte er etwas Bedeutendes von ihr.
»Soll ich helfen?« fragte er. Die meisten Leute, die — abgesehen von ihren vielen Freunden — nach Eternity kamen, waren Touristen, die sich die Geisterstadt ansehen wollten, oder verirrte Wanderer.
Als sie nicht gleich antwortete, fragte er: »Erinnerst du dich nicht mehr an mich?« Die Stimme klang ausgesprochen angenehm.
Sie stellte ihre Bemühungen um die verkeilte Schraube ein und sah ihn sich genauer an. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Höchstwahrscheinlich wohnte er in Chandler und war ein früherer Schulkamerad von ihr.
»Tut mir leid«, sagte sie, »ich weiß wirklich nicht, wo ich dich hinstecken soll.«
Ohne die Spur eines Lächelns fragte er: »Erinnerst du dich vielleicht an das hier?« Sie sah einen kleinen Gegenstand in seiner geöffneten Hand liegen, konnte aber nicht erkennen, was es war.
Neugierig kletterte sie die Leiter hinab und stand nun vor ihm. Sie galt allgemein als hochgewachsene Frau. Doch der Mann war bestimmt noch sieben, acht Zentimeter größer. Aus der Nähe kam er ihr noch bekannter vor. Sie nahm den Gegenstand von seiner Handfläche und sah, daß es die Anstecknadel einer Schule war. CHS stand in Goldprägung auf dem in den Schulfarben Blau und Gold
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