Unwiderstehliches Verlangen
gehaltenen emaillierten Untergrund. Zuerst sagte ihr die Nadel gar nichts, doch nachdem sie noch einmal in die ernsten, dunklen Augen des Mannes gesehen hatte, begann sie zu lachen.
»Mein Gott, du bist der kleine Billy Montgomery, stimmt’s? Ich habe dich wirklich nicht gleich wiedererkannt, so groß bist du geworden.« Sie trat einen Schritt zurück und musterte ihn eingehend. »Und wie gut du aussiehst! Wie viele Freundinnen hast du denn? Ein Dutzend? Hundert? Wie geht es deinen Eltern? Was treibst du eigentlich jetzt? Ach, ich habe tausend Fragen an dich. Warum hast du mich nicht längst schon mal besucht?«
Ein ganz kleines Lächeln erhellte seine Miene und verriet, wie sehr ihn ihre stürmische Begrüßung freute. »Ich habe überhaupt keine Freundin. Du warst immer das einzige Mädchen, das ich geliebt habe.«
Wieder lachte sie. »Nein, du hast dich gar nicht verändert. Du bist immer noch genauso ernst, genauso ein alter Mann wie früher.« Ohne Umstände hakte sie sich bei ihm ein. »Weißt du was? Du kommst mit mir nach Hause, bekommst eine Tasse Tee und erzählst mir alles über dich. Mir fällt gerade ein, wie streng ich früher immer zu dir war.« Sie sah zu ihm auf. »Man sollte es kaum glauben, daß ich dir mal die Windeln gewechselt habe.«
Lächelnd gingen sie Arm in Arm auf ihr Haus zu. Als Kind hatte Billy nie viel geredet. Auch jetzt schwieg er, was Jackie Gelegenheit gab, sich weiter zu erinnern. Er war der erste, bei dem sie Babysitter gespielt hatte. Sie war zwölf gewesen und er zwei. Bei ihm hatte sie ihre ersten Erfahrungen in Kinderpflege und ihre erste Bekanntschaft mit schmutzigen Windeln gemacht. Nach dem ersten Tag als Babysitter war sie nach Hause gekommen und hatte zu ihrer Mutter gesagt, sie würde nie, nie Kinder haben wollen. Kinder sollten auf möglichst viel Stroh so lange in der Scheune gehalten werden, bis sie stubenrein waren.
Sie hatte Billy immer gemocht. Er war so still, hörte Jackie geduldig zu und tat immer alles, wozu Jackie gerade Lust hatte. Wenn sie den anderen Kindern vorschlug, ihnen aus einem Buch vorzulesen, wollten die unbedingt im Garten auf die Bäume klettern und Affen spielen. Wenn Jackie mit ihnen den Abhang hinunterrollen wollte, verlangte es die Kinder danach, im Haus zu bleiben und mit ihren Puppen oder der Modelleisenbahn zu spielen.
Aber Billy war anders. Er war immer bereit, das zu tun, was Jackie gerade gefiel. Zuerst hatte sie gemeint, daß er sich nur bei ihr einschmeicheln wollte. Aber bald stellte sie fest, daß das nicht zutraf, denn in den folgenden Tagen fragte Billys Mutter sie häufig, was sie heute mit den Kindern vorhabe. Wenn Jackie es ihr sagte, lachte seine Mutter und meinte: »Zu komisch! Eben hat Billy mir gesagt, daß er das gleiche machen möchte.«
Jackie gefiel der stille kleine Junge, weniger gefiel ihr allerdings, daß er, wenn sie nicht den Babysitter spielte, überall da auftauchte, wo sie sich gerade aufhielt. Wenn er mit seinen Angehörigen in der Stadt war und Jackie erblickte, ließ er die Familie stehen und folgte ihr. Oftmals mußte er dazu eine breite Straße überqueren, und es machte ihm nichts aus, daß seinetwegen Pferde scheuten oder Autofahrer entsetzt auf die Bremse treten mußten. Er wollte einfach immer da sein, wo Jackie gerade war. Jackies Mutter begann ihre Tochter aufzuziehen, indem sie sagte, Billy habe sich in sie verliebt. Das alles ließ Jackie sich noch gefallen und fand es sogar ganz nett, aber dann lungerte er auch abends vor ihrer Türschwelle herum. Da wurde er ihr lästig. Wie ein verdammter kleiner Bruder, den sie nie gehabt hatte — und nie haben wollte.
Ihre Mutter vereinbarte mit Billys Mutter, daß Jackie an drei Nachmittagen in der Woche auf ihn aufpassen werde. Als Jackie davon erfuhr, wurde sie wütend. Doch ihre Mutter blieb dabei. Verärgert beschloß Jackie, den Kleinen ein für allemal loszuwerden. Auf welche Art? Nun, sie würde ihn zu Tode erschrecken. Sie war mit fünfzehn eine echte Wildkatze, ein halber Junge, und Billy mit fünf recht groß und kräftig für sein Alter. Jackie kletterte auf einen Baum und ließ Billy stundenlang unten rumstehen in der Hoffnung, er würde sich bei seiner Mutter über sie beschweren. Doch den Gefallen tat er ihr nicht. Er schien über grenzenlose Geduld zu verfügen. Und außerdem sagte ihm so etwas wie ein sechster Sinn, was er sich schon Zutrauen konnte und was nicht.
Da war dieses Seil, das von einem Baum aus über den Fluß gespannt
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