Unwiederbringlich
Er überflog sie, was nicht viel Zeit in Anspruch nahm, da ihrer nur wenige waren, und dann, als letztes, ein neues Telegramm, darin sie sich entschuldigte, seit vier Tagen nicht geschrieben zu haben. Das war alles, und so wenig es dem Umfange nach war, so wenig war es inhaltlich. Es verdroß ihn, weil er der Frage, wer eigentlich die Schuld trage, klüglich aus dem Wege ging. Er sagte sich nur, und dazu war er freilich berechtigt, daß es früher sehr anders gewesen sei. Früher, ja noch bei seiner letzten Anwesenheit in Kopenhagen, waren die zwischen ihnen gewechselten Briefe wahre Liebesbriefe gewesen, in denen, aller Meinungsverschiedenheiten unerachtet, die große Neigung, die sie bei jungen Jahren füreinander gehegt hatten, immer wieder zum Ausdruck gekommen war. Aber diesmal fehlte jede Zärtlichkeit, alles war frostig, und wenn ein Scherz versucht wurde, so war ihm etwas Herbes oder Spöttisches beigemischt, das ihm alles Erquickliche nahm. Ja, so war es leider, und doch mußte geschrieben werden. Aber was? Er sann noch hin und her, als die Hansen eintrat und ihm Briefe behändigte, die der Postbote eben gebracht hatte. Zwei davon waren Kopenhagener Stadtbriefe, der dritte, von Christinens Handschrift, hatte nicht das gewöhnliche Format und statt des Poststempels Glücksburg den Poststempel Hamburg. Holk war einen Augenblick überrascht, erriet aber den Zusammenhang der Dinge, noch eh er geöffnet hatte. »Natürlich, Christine macht ihre Pensionsreise.« So war es denn auch wirklich, und was sie schrieb, war das Folgende.
»
Hamburg
, Streits Hotel, den 14. Oktober 59
Lieber Holk. Mein Telegramm, in dem ich mich wegen meines mehrtägigen Schweigens entschuldigte, wirst Du erhalten haben. Nun siehst Du schon aus dem Poststempel, was die Veranlassung zu diesem Schweigen war: ich war in Reisevorbereitungen, die, trotz der Hülfe meiner guten Dobschütz und trotzdem ich alles auf das bloß Nötigste beschränkte, meine ganze Kraft in Anspruch nahmen. Wir fuhren bis Schleswig zu Wagen, von da per Bahn, und seit heute mittag sind wir hier in Streits Hotel, an das uns so viele freundliche Erinnerungen knüpfen. Wenn Dir an solchen Erinnerungen noch liegt! Ich habe Zimmer im zweiten Stock genommen, Blick auf das Bassin, seinen Pavillon und seine Brücken, und habe mich, als die Dämmerung kam, in das Fenster gelegt und das schöne Bild, wie früher, auf mich wirken lassen. Nur Asta war bei mir, Axel in die Stadt gegangen; er wollte mit Strehlke, der uns bis hierher begleitet hat, erst nach der Uhlenhorst und dann zu Rainvilles. Von da dann nach Ottensen, um sich Meta Klopstocks Grab anzusehen. Ich habe gern zugestimmt, weil ich weiß, daß solche Momente bleiben und das Leben vertiefen. Und das wäre nun wohl der Zeitpunkt, Dich wissen zu lassen, welche Beschlüsse, nach nochmaliger eingehender Beratung, hinsichtlich der Kinder von mir gefaßt wurden. Auch Alfred stimmte bei, wenn er auch die Bedeutung der Frage bestreitet. Asta natürlich nach Gnadenfrei. Daß es füglich nicht anders kommen konnte, damit wirst auch Du Dich vertraut gemacht haben. Ich habe glückliche Jahre dort verbracht, ich sage nicht, die glücklichsten (Du weißt, welche Jahre mir die glücklichsten waren), und ich wünsche meinem Kinde das gleich beneidenswerte Los, die gleich harmonische Jugend. Was Axel angeht, so hab ich mich, auf Schwarzkoppens Rat, für das Bunzlauer Pädagogium entschieden. Es hat den besten Ruf und bleibt in der Strenge der Grundsätze hinter den thüringischen Lehranstalten nicht zurück, läßt aber diese Strenge da fallen, wo nicht Prinzipien in Frage kommen. Strehlke, der erst nach Malchin wollte, wird nun bei seinem Bruder in Mölln vikarieren; in den großen Ferien hat er mir versprechen müssen unser Gast zu sein und sich um Axel zu kümmern. Er ist ein guter Mensch und wäre vorzüglich, wenn er, eh er seine Studien in Berlin abschloß, die vorhergehenden Jahre, statt in Jena, lieber in Halle verbracht hätte. Das Jenasche, mit seinen Einflüssen, ist nie ganz wieder zu tilgen. Ich wüßte nicht, was ich hinsichtlich der Kinder diesen Zeilen noch hinzuzusetzen hätte. Vielleicht das eine, daß mich eine gewisse Freudigkeit an ihnen schmerzlich überraschte, als es feststand, daß sie das elterliche Haus verlassen sollten. Der aller Jugend angeborne Hang nach dem Neuen, nach einem Wechsel der Dinge, scheint mir dabei nicht mitzusprechen oder wenigstens nicht allein. Aber wenn es das nicht ist, was
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