Urangst
Stolz das, was die Leere an dieser Stelle füllt. Er mochte durchaus das Gefühl haben, die Wunde, die sie seinem Stolz zugefügt hatte, verlange nach Vergeltung, und irgendwann konnte er zurückkommen und sich auf die Suche nach ihr machen.
Demzufolge war es ihrem Anwalt gelungen, das Gericht davon zu überzeugen, die Regierung müsse ihr bei der Erschaffung einer neuen Identität behilflich sein und die Akten, die ihre Namensänderung betrafen, für alle Zeiten versiegeln.
Seit ihrem dritten Lebensjahr hatte sie ihr Leben als Amy Harkinson geführt, und den Nachnamen, der an ihr Hemd geheftet war, als sie in der Kirche der Mater Misericordiae ausgesetzt worden war, hatte sie so gut wie vergessen. Redwing.
Sie war sich ziemlich sicher, dass sie diesen Namen Michael gegenüber nie erwähnt hatte. Ihre tragische Vorgeschichte war ihr so peinlich, als sei sie ein verwahrlostes Kind gewesen, das der Fantasie eines Dickens entsprungen war. Anstelle der vollen Wahrheit mit all den melodramatischen Aspekten und statt sich selbst als eine Frau von unbekannter Herkunft und Abstammung zu outen, hatte sie ihm lieber erlaubt zu glauben, sie sei das Kind der Harkinsons gewesen und erst nach deren Tod ins Waisenhaus gekommen.
Ihrem Anwalt und dem Richter wäre es lieber gewesen, wenn sie keinen Rückgriff vorgenommen, sondern sich einen vollständig neuen Namen zugelegt hätte, aber der Gedanke an ein Leben ohne irgendeinen Berührungspunkt mit ihrer Vergangenheit hatte sie Panikanfälle erleiden lassen. Die Nonnen von Mater Misericordiae waren so kooperativ gewesen, den Namen Redwing aus ihren Akten und, so gut sie es vermochten, auch aus ihrem Gedächtnis zu streichen.
Dadurch hatte sie auch die Schwestern verloren, die sie großgezogen hatten. Bis Michael gefunden wurde, falls es jemals dazu kommen sollte, wagte Amy nicht, Mater Misericordiae auch nur einen Besuch abzustatten.
Sie war in den Westen gegangen und hatte sich einen kleinen Bungalow gekauft. Ihr Kummer ließ sie bis auf die Knochen abmagern und sie war eine Gefangene der Einsamkeit. Fast ein Jahr lang fand sie keine Möglichkeit, aus ihrer Zelle zu entkommen.
Dann fiel ihr eines Tages, als sie die Kette mit dem Medaillon anlegte, die goldige Nickie ein, die aus einer herbstlichen Wiese zu ihr gekommen war, und sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie fand einen guten Züchter und kaufte zwei Welpen.
Fred und Ethel hatten wieder Hoffnung in ihr Leben gebracht. Sowie sie die Hoffnung wiedergefunden hatte, vermochte sie zu überlegen, welchen Sinn ihr Leben haben könnte, und so kam es, dass sie Golden Heart gründete.
Jetzt läutete inmitten der verdorrten Wiese Brians Handy. Vanessa erteilte weitere Anweisungen. Keine Stunde trennte sie mehr davon, Hope in Brians Leben zurückzuholen.
60
Die einspurige asphaltierte Straße führte eine halbe Meile von der Landstraße weg, bevor man ein schlichtes Tor aus lackiertem Stahlrohr erreichte, das die Durchfahrt versperrte.
Wenn der perlweiße Nebel noch dichter wurde, würde das weiße Tor trotz der roten Reflektoren, die daran befestigt waren, sogar bei Tageslicht kaum noch zu erkennen sein. Im Scheinwerferlicht glitzerte eine Reihe dieser Ovale, als sei das Tor ein Trophäengestell, auf dem die Köpfe gigantischer Klapperschlangen prangten.
Billy Pilgrim öffnete das Fenster auf der Fahrerseite und drückte den Knopf der Sprechanlage auf dem Pfosten.
Es kam nur zu einer kurzen Verzögerung, bevor Harrow erwiderte: »Wer ist da?«
»Ich bin es. Billy.«
Harrow kannte ihn auch unter einigen anderen Namen, aber nicht als Tyrone Slothrop.
»Du bist spät dran«, hielt Harrow ihm vor.
»Ich habe dieses wunderschöne junge Mädchen gesehen, in einem Wagen mit einem Sticker auf der Stoßstange, auf dem stand: ABSTINENZ BEWÄHRT SICH IMMER, und ich habe sie nicht umgebracht.«
Nach kurzem Schweigen sagte Harrow: »Du bringst mich immer zum Lachen, Billy. Aber jetzt nicht, okay?«
»Juliette Junke sagt, ich arbeite zu hart. Vielleicht liegt es daran.«
»Willst du etwa jetzt mit mir über dein Arbeitspensum diskutieren?«
»Nein. Ich meinte ja nur.«
»Hast du die Tüte mit dem Zeug aus Amys Haus?«
»Ja, aber ich bringe sie dir später.«
»Wann später?«
»Wie du schon sagtest, ist meine Zeit knapp. Ich muss schleunigst alles vorbereiten. Ich bringe die Tüte mit, wenn ich das Miststück und McCarthy bei dir abliefere.«
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Harrow.
»Wenn das erledigt ist,
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