Urangst
nicht nur in ihrem Kopf gespeichert, sondern auch in ihren Händen. Die Haut auf ihren Handflächen bewahrte die Erinnerung daran, wie sie das letzte Mal ihr lebendiges Kind berührt hatte, an die zarte Haut des Mädchens und auch daran, wie sich ihr sauberes, schimmerndes Haar angefühlt hatte, als Amy es ihr aus dem Gesicht gestrichen hatte, die Wärme des Atems, der aus ihren winzigen Nasenlöchern kam.
All das und noch mehr konnte Amy nun fühlen – die goldige Rundung von Nicoles Kinn, die Wölbung ihrer runden Bäckchen, die süßen Ohrmuscheln und die zarten Ohrläppchen – , detaillierte taktile Wahrnehmungen, die jetzt so real waren wie zu dem Zeitpunkt, als die Berührung stattgefunden hatte, Empfindungen, die sie für den Rest ihres
Lebens mit sich herumtragen würde und die sowohl auf Kommando als auch aus heiterem Himmel über sie hereinbrechen konnten, um sie dann zu verheeren, wenn sie am wenigsten damit rechnete.
Sie lief weiter in die Wiese hinein, ohne ein klares Ziel vor Augen zu haben. So kämpfte sie sich schon seit fast neun Jahren voran, nichts Konkretem entgegen, nur auf der Suche nach einer Lösung, wie sie mit ihrem Verlust umgehen konnte. Dabei hatte sie doch immer gewusst, dass es keine Lösung gab, dass der Sinn ihres Verlustes eine Gleichung war, die in diesem Leben nicht gelöst werden konnte.
Nach weiteren zwanzig oder hundert Schritten sank sie auf die Knie, konnte sich aber nicht einmal in dieser Stellung halten, sondern ging auf alle viere, als sei sie ein Kind, dem keine andere Fortbewegung als das Krabbeln zu Gebote stand. Aber nicht einmal dafür hatte sie die Kraft. Und es fehlte das Ziel.
Seit dem Zeitpunkt, als sie aufgehört hatte, Amy Cogland zu sein, und auch nicht mehr Amy Harkinson sein konnte, hatte sie in ihrer Identität als Amy Redwing nie mehr jemandem die Geschichte jener Nacht erzählt. Nachdem sie so viele Jahre sparsam mit ihren Gefühlen gehaushaltet und sie in den dunklen und stillen Nächten schlaflosen Wiederauflebens von Erinnerungen gehegt und gepflegt hatte, entdeckte sie, dass es sie heftiger und tiefer als erwartet niedergeschmettert hatte, Brian davon zu berichten.
Mit den Knien und den Händen auf der Erde ließ sie den Kopf hängen, denn er war schwerer als Stein, und die Laute, die sie von sich gab, waren weniger ein Schluchzen, sondern entsprangen eher der Anstrengung, Atem zu schöpfen. Sie hatte geweint, als sie ihm von Nickies Tod berichtet hatte, dem Maskottchen der Mater Misericordiae. Jetzt schienen Tränen kein adäquater Ausdruck für den Verlust ihrer
zweiten Nickie zu sein. Vielleicht hätte die einzige Möglichkeit, einen solchen Verlust anzuerkennen, darin bestanden, in jener Nacht gemeinsam mit ihrer Tochter gestorben zu sein.
Sie setzte sich auf das gelbe Gras, fast im Lotossitz, wenn man davon absah, dass sie ihre Knie mit den Händen umklammerte und den Kopf nach wie vor hängen ließ. Sie wiegte sich sanft.
Sie hatte einmal gelesen, Meditation sei der Weg zu heiterer Gelassenheit, aber sie hatte nie meditiert. Sie wusste, dass Meditation unweigerlich dazu führen musste, über jene Nacht nachzudenken, und dass sie dieselben Fragen aufwerfen würde, die nicht beantwortbar waren, das eine Warum und die tausend Fragen, die mit Was wäre wenn begannen.
Stattdessen hatte sie das Gebet, und dabei blieb sie. Sie betete für ihre Tochter, für James und Ellen, für Lisbeth und Caroline. Sie betete für die Hunde, sämtliche Hunde, und für verbesserte Zustände, unter denen sie weniger zu leiden hatten.
Nach einer Weile blickte Amy auf und sah in einigen Metern Entfernung Brian mit Nickie an der Leine unbeholfen dastehen. Offenbar war er sich nicht sicher, ob es richtig war, ihr Zeit für sich selbst zu lassen, aber es war natürlich das einzig Richtige.
Sie liebte ihn für seine gelegentliche Unbeholfenheit, sein Zögern, seine Zweifel, seine Hemmungen.
Michael Cogland war immer selbstsicher, gewandt und zuversichtlich gewesen, in jeder denkbaren Umgebung. Aber das, was wie angeborene Anmut wirkte, war tatsächlich der soziopathische Lack eines Mannes gewesen, den niemals auch nur eine Spur von Demut zurückgehalten hatte.
Jetzt ließ Brian den Golden Retriever von der Leine, und auch das war genau richtig. Der Hund rannte in ihre Arme.
Brian zögerte kurz, kam dann fast so linkisch wie ein kleiner Junge auf sie zu und setzte sich neben sie.
Nach einem schüchternen Schweigen sagte er: »Ein Hundeleben ist kurz, zu kurz,
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