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Urban Gothic (German Edition)

Urban Gothic (German Edition)

Titel: Urban Gothic (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Keene
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Gewebefäden mit dem restlichen Körper verbunden. Dann wurde sie von Dutzenden gierigen kleinen Händen abgerissen.
    So will ich nicht sterben. Gottverdammte Scheiße, ich weigere mich! So sollte ich nicht sterben. Das ist nicht fair! Ich muss noch so viel tun. Das ergibt einfach keinen Sinn ...
    Wieder schaute sie zur Oberfläche, hoffte abermals, ein letztes Mal ein Licht zu sehen oder vielleicht Javier, der kam, um sie zu retten. Oder ihre Eltern. Ihre Geschwister. Ihre Freunde. Gott.
    Stattdessen sah sie den Schwanz, der auf ihr Gesicht zuraste.
    Dann wurde sie von Finsternis umhüllt und Heather nahm überhaupt nichts mehr wahr.

20
    Javier schloss die Augen. Nicht, weil er es wollte, sondern weil der Adrenalinstoß, der ihm seit der Flucht vor seinen Entführern Kraft gegeben hatte, allmählich versiegte. Er fühlte sich schwach und zittrig. Blutverlust, Schock und Erschöpfung forderten letztlich ihren Tribut. Er wusste, wenn er die anderen finden und es lebend aus dieser Hölle hinaus schaffen wollte, musste er sich ausruhen, wenn auch nur kurz. Sein Magen knurrte. Er verspürte Hunger. Nach allem, was sich ereignet hatte, empfand er das als absurd, doch er konnte nichts daran ändern.
    Eine leichte Brise, die von irgendwo zu seiner Linken ausging, wehte über sein Gesicht. Dabei musste er daran denken, wie er sich als Kind gefühlt hatte, wenn der Atem seiner Mutter über seine Haut strich und sie ihm Schlaflieder vorsang. Nun wurde ihm klar, wie kostbar solche Erinnerungen waren, diese kleinen Gedächtnisschätze, die in Summe seine Existenz ausmachten. Gleichbedeutend mit Leben. Wenn er in dieser Nacht starb, starben diese Erinnerungen mit ihm. Javier hatte nicht vor, das zuzulassen. Er verharrte an Ort und Stelle, kauerte sich an einen großen Felsblock, wollte noch nicht weitergehen, wollte seine Mutter nicht vergessen – denn solange er sich an sie erinnerte, konnte er nicht sterben.
    Er öffnete die Augen, als ein weiterer Luftzug den Schweiß auf seiner Stirn und seinen Wangen trocknete. Darin lag ein anderer Duft. Nicht der Gestank der Mutanten oder der Kanalisation. Etwas anderes. Etwas, das er nicht einzuordnen vermochte. Keineswegs unangenehm. Er musste an einige seiner Lieblingsgerüche denken – Benzin, Heathers Parfum, die Blumensträuße, die seine Mutter überall im Haus platzierte, das Holzkohlearoma, das immer aus Burger-King-Restaurants zu wehen schien. Sein Magen knurrte. Gott, was war er hungrig.
    Aber das galt auch für seine Gegner. Er musste sich wieder in Bewegung setzen.
    Javier fragte sich, wie sie es geschafft hatten, so lange hier unten zu überleben. Was aßen sie sonst noch? Ratten? Käfer? Hielten sie Gefangene wie Vieh in Käfigen? Oder schlimmer noch: Zwangen sie ihre Gefangenen, sich zu vermehren, und vertilgten den Nachwuchs wie eine perverse Form von Lammkoteletts? Menschliches Kalb? Wie sicherten diese Kreaturen ihren Fortbestand? Allein von Menschen, die zufällig in die Falle oben stolperten, konnten sie sich nicht ernähren. Nicht jeder war so dämlich, in ein verfluchtes Haus zu laufen und sich und seine Freunde als Buffet anzubieten.
    Es ist alles Tylers Schuld, dachte er. Dann: Nein. Nein, ist es nicht. Nicht wirklich. Es ist meine Schuld. Sie sind meinetwegen tot. Ich habe sie hier reingeführt. Ich habʼs nicht geschafft, sie zu beschützen. Ich habe ihren Tod auf dem Gewissen .
    Wie hatte er nur so leichtsinnig sein können, so kaltschnäuzig?
    Als ihm klar wurde, was gerade geschah, schob Javier die Gedanken beiseite. Er hatte keine Zeit für Selbsthass. Die Schuldgefühle konnten sich später einstellen. Wenn er von diesem Ort entkommen wollte, musste er konzentriert bei der Sache bleiben. Er untersuchte sich rasch und vergewisserte sich, dass die Schnittwunden an seinen Handgelenken verschorft blieben und nicht bluteten. Was er sah, beruhigte ihn. Zwar brauchte er immer noch medizinische Betreuung, aber er drohte nicht zu verbluten. Auch an seinen geschwollenen Lippen schmeckte er kein Blut mehr. Er würde weiterleben.
    Aber wie lange?
    Vorsichtig erhob sich Javier aus seinem Versteck hinter dem Felsblock und bewegte sich langsam der leichten Brise entgegen. Größtenteils stand die Luft nach wie vor still, und wenn er sich zu schnell bewegte, konnte er den schwachen Hauch nicht mehr spüren. Javier hoffte, dass er ihn zu einem Ausgang führte. Er musste es probieren. Dann boten sich zwei Alternativen – entweder fliehen und Hilfe holen oder sich zurück

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