Urban Gothic (German Edition)
in die Katakomben stürzen. Um Heather, Kerri und Brett zu suchen, darauf zu hoffen, dass er mit ihnen im Schlepptau den Ausgang wiederfand, und sie alle in Sicherheit zu bringen. Aber was, wenn sie noch immer überall im Gelände verteilt herumirrten? Oder was, wenn es einen von ihnen erwischt hatte? Das würde die Aufgabe erheblich erschweren.
Der unidentifizierbare Geruch wurde stärker. Dasselbe galt für den Luftzug. Er tastete in der Dunkelheit umher und entdeckte bald einen neuen Gang hinter einer schlichten, gut getarnten Holztür, die auf Schienen lief. Das Prinzip entsprach dem oben im Haus. Eine weitere Erkundung mit den Fingerspitzen verriet ihm, dass man die Tür mit Schlamm bedeckt hatte, um sie vor zufälligen Blicken zu verbergen. Der Lufthauch drang aus einer Spalte am oberen Rand in den Gang.
Was verbirgt sich hinter Tür Nummer eins?, fragte er sich. Ihr Bau? Käfige für die Gefangenen? Die U-Bahn? Vielleicht sogar eine Treppe nach oben?
Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. So leise wie möglich drückte Javier gegen die Tür. Sie glitt nach rechts in ihre Nische. Die leichte Brise wurde stärker und schoss regelrecht aus der Öffnung hervor. Nun konnte er auch den Geschmack auf der Zunge zuordnen: In der Nähe befand sich Wasser. Der Intensität des Aromas nach eine große Menge. Kein chlorhaltiges, aufbereitetes Wasser. Der erdige, urtümliche Geruch erinnerte eher an einen See. Bretts Vater hatte Javier, Tyler und Brett einmal zu einem Angelwochenende an den Raystown Lake mitgenommen. Dort hatte es genauso gerochen. Javier fragte sich, was sich vor ihm befand. Ein Zufluss des Delaware River oder aus der Kanalisation, der in die Höhlen heruntersickerte und kondensierte, einen unterirdischen Teich oder See bildete? Falls er mit der Vermutung richtiglag, was lauerte dann wohl rings um eine solche Wasserstelle? Nun, irgendwo musste er hin. Er konnte nicht einfach in der Dunkelheit stehen bleiben und warten, bis ihn Scug oder einer der anderen Freaks fand. Er musste sich um die Mädchen kümmern.
Und um sein eigenes Überleben.
Javier trat über die Schwelle und schob die Tür hinter sich zu. Einige Minuten lang folgte er dem Korridor und fuhr dabei mit den Fingern einer Hand über die Wand. Dann hielt er inne. Sein Mund klappte auf, seine Augen weiteten sich. Ungläubig kniff er sie zusammen. Vor ihm befand sich ein Licht – schwach und undeutlich, aber trotzdem vorhanden. Vorsichtig bewegte er sich vorwärts, und mit jedem Schritt wurde seine Umgebung deutlicher.
Im Gegensatz zum vorherigen Bereich hatten hier unübersehbar Menschenhände ihre Spuren hinterlassen. Javier stand in einem breiten Zugangskorridor aus Beton, der in einen noch größeren Kanalisationstunnel mündete. Er näherte sich der Öffnung und starrte hinein. Ein schmaler Fluss strömte am gewölbten Boden des größeren Tunnels vor sich hin. Die Stärke der Strömung überraschte ihn. Das Wasser floss schnell und geriet in den Schatten am Ende des Tunnels außer Sicht. Trotz allem verursachte der Fluss kaum Geräusche, gurgelte flüsterleise. Javier leckte sich über die trockenen Lippen und spielte mit dem Gedanken, daraus zu trinken. Er hatte solchen Durst.
Der Junge kniete sich hin und schöpfte mit den Händen Wasser. Er schnupperte daran. Es roch einwandfrei. Dann erblickte er die winzigen, fast unsichtbaren Kaulquappen, die sich darin wanden. Sie erinnerten ihn an Sperma. Trotz seines großen Dursts hatte Javier nicht die Absicht, Kaulquappen mitzutrinken. Er wusste nicht einmal, ob es sich wirklich um Kaulquappen handelte. Womöglich irgendwelche Parasiten. Dass eine Familie davon in seinen Eingeweiden herumschwamm, konnte er auf keinen Fall gebrauchen. Angewidert stieß er auf und wischte die Hände an der Hose ab. Sein Durst war vorerst vergessen.
Javier richtete den Blick nach oben, hielt nach der Quelle des Lichts Ausschau und sog scharf die Luft ein. Über dem Fluss befanden sich mehrere primitive Behausungen, jede in die obere Krümmung des breiten Betontunnels gebaut. Sie ähnelten riesigen Wespennestern, die über dem Wasser schwebten und sich ohne erkennbares System aneinanderreihten. Gefertigt hatte man sie aus Schlamm, Holz und sonstigen Trümmerteilen. Javier betrachtete die Gebilde mit einer Mischung aus Furcht und Verwunderung. Sie sahen aus, als könnten sie unmöglich an den Wänden haften, trotzdem taten sie es. Darüber befand sich eine schier endlose Lichterkette. Wie bei einem
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