Urban Gothic (German Edition)
den Gang hinter der Tür entlang. Mit tastend nach vorn gestreckten Armen stürzte sich Javier in die Dunkelheit und fragte sich erneut, wie um alles in der Welt er Brett und die Mädchen unter solchen Umständen finden sollte. Wie groß mochte das Gewirr der Kellergewölbe, Höhlen und Tunnel sein? Wie tief reichte es in die Erde hinab? Wie weit erstreckte es sich? Bestand die Möglichkeit, dass er bis zu seinem Zuhause in East Petersburg laufen konnte, ohne ein einziges Mal an die Oberfläche zurückzukehren?
»Scheiße, Scheiße, Scheiße ...«
Erdrückende Klammern der Angst legten sich um seine Brust und einen Moment lang fürchtete Javier, einen Herzinfarkt zu erleiden. Er blieb stehen, beugte sich vornüber und holte tief Luft, bis die Beklemmung verschwand. Dann richtete er sich wieder auf und orientierte sich rasch. Trotz der Dunkelheit wusste er, aus welcher Richtung er gekommen war und wohin er gehen konnte, zumindest in beschränktem Rahmen. Er wusste, dass es wahrscheinlich weitere versteckte Passagen gab. In diesem Labyrinth konnten sich noch unzählige getarnte Zugänge zu anderen Tunneln und Albträumen verbergen. Jeder Schritt in eine neue Richtung steigerte die Chancen, auf einen davon zu stoßen und dem zu begegnen, was darin lauerte. Aber wenn er Heather, Kerri und Brett finden wollte, musste er das Risiko eingehen. Schließlich hatten sie sich an keinem der Orte befunden, die er bereits überprüft hatte.
Und dann gab es da noch die Kreaturen in der Umgebung. Vielleicht menschlich, vielleicht auch nicht. Er konnte nicht sicher sein. Jedenfalls aßen sie Menschen, was immer sie selbst sein mochten.
Kurz überlegte er, ob er Heather und die anderen einfach vergessen und verschwinden sollte, solange er noch konnte. Er schämte sich für den Gedanken.
Javier hörte, wie sich irgendwo hinter ihm knarrend eine Tür öffnete. Darauf folgte das leise Tapsen von Füßen, als seine Verfolger in die Höhle strömten. Er fragte sich, wie viele es sein mochten. Anhand der Geräusche ließ es sich unmöglich abschätzen. Keine der Kreaturen gab einen Laut von sich. Ihr Geschrei verstummte im selben Moment, da sie die Dunkelheit betraten.
Mit angehaltenem Atem schlich Javier weiter. Er dachte an seine Mutter. Er dachte an Heather. An Kerri. An Brett und Tyler und all ihre anderen Freunde. Er dachte an seine Lehrer und an das Mädchen, das er mit elf im Sommerlager geküsst hatte. Er dachte sogar an den Kerl, der ihm in der vierten Klasse fast die Nase gebrochen hätte. Javier dachte an jeden, den er je gekannt hatte, an jeden, der einen positiven oder negativen Einfluss auf sein Leben genommen hatte. An jeden, der zählte. Abermals redete er sich ein, dass er nicht sterben konnte, solange er sich an sie erinnerte, weil die Erinnerungen sonst mit ihm starben. Als das nicht mehr funktionierte, kehrten seine Gedanken zu Heather zurück. Er konzentrierte sich ganz auf sie, beschwor im Geiste ihr Bild herauf. Ihr Gesicht, ihr Lächeln, die Sommersprossen um ihre Nase. Er spürte, wie seine Entschlossenheit zurückkehrte. Er musste sie finden und dafür sorgen, dass ihr nichts passierte. Damit schaffte er es, sich vor der Panik und der Angst zu schützen, die an seinem Verstand und an seinem Herzen nagten.
Javier ging vier weitere Schritte, dann hörte er sie kommen und ausschwärmen. Es klang, als ob es sich um ziemlich viele handelte. Er vernahm die Geräusche von Krallen auf Stein, das Rascheln von Haaren, schnaubende Grunzlaute und leises Seufzen. In der Nähe hechelte etwas, so dicht bei ihm, dass er den Atem im Nacken fühlen konnte. Mitten im Schritt hielt er inne und verharrte stocksteif. Er wusste, wenn er hierblieb, lag die Chance, dass man ihn entdeckte, bei nahezu 100 Prozent. Eine der Kreaturen würde in der Finsternis mit ihm zusammenstoßen oder ihn riechen, seinen Atem hören. Auch Schleichen funktionierte nicht. Sie konnten seine verstohlenen Schritte wahrnehmen, oder er stolperte in der Dunkelheit über etwas. Danach würden sie über ihn herfallen, noch bevor er sich wieder aufrappelte.
Javier stählte sich, hoffte, seine Verfolger kurzzeitig zu erschrecken und zu verwirren, stieß einen derart lauten Schrei aus, dass seine Stimmbänder schmerzten, und stürmte geradewegs in die Schwärze, so schnell er konnte. Er verdrängte seine Angst, schob Visionen davon beiseite, wie er mit dem Kopf voraus gegen ein unsichtbares Hindernis krachte oder in eine verborgene Grube stürzte, und stürmte
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