Urban Gothic (German Edition)
Programme her, die sie für unnötig halten – Programme, die für viele Menschen hier überlebensnotwenig sind. Aber dann fehlt am Ende des Monats immer noch Kohle, also fangen sie an, Leute zu entlassen. Parkuhrenbetreuer, Müllmänner, Wartungsarbeiter – und Bullen. Immer die Bullen. Letzten Endes hat die Stadt weniger Polizisten, aber genauso viel Verbrechen. Scheiße, sogar mehr Verbrechen. Je schlechter die Wirtschaftslage wird, desto höher steigt die Verbrechensrate. Nur gibt es dann nicht mehr so viele Bullen, die sich darum kümmern, und diejenigen, die noch da sind – die haben ihre Prioritäten. Und in der Liste steht unser Viertel nicht besonders weit oben.«
Die Jungen schwiegen, dachten über seine Worte nach, wägten sie ab. Schließlich ergriff Leo das Wort. »So sollte es nicht sein.«
»Nein«, pflichtete Perry ihm bei. »Sollte es nicht. Definitiv nicht. Ist es aber. Immer gewesen, soweit ich zurückdenken kann, und ich lebe hier schon lange. Im Fernsehen redet der Präsident über Veränderung, und ich würde gern glauben, dass er es ernst meint, nur bei uns hier unten ändert sich nicht das Geringste.«
Einer nach dem anderen richteten sie die Blicke wieder auf das Haus am Ende der Straße. Perrys Zigarettenspitze leuchtete in der Dunkelheit orange.
Leo runzelte die Stirn. »Was hat es mit dem Schuppen auf sich, Mr. Watkins? Ich meine, ich weiß, dass man da nicht reingeht. Von klein auf ist uns gesagt worden, dass es dort spukt. Scheiße, es sieht sogar aus wie ein Spukhaus. Niemand geht da je rein. Jeder weiß, dass Menschen, die es tun, nie wieder rauskommen.«
»Stimmt«, gab Jamal ihm recht. »Nicht mal die Crack- oder Meth-Junkies trauen sich noch in die Nähe von dem Haus.«
»Aber warum?«, hakte Leo nach. »Woran liegt’s? Was passiert mit den Leuten, die verschwinden? Dahinter muss doch eine Geschichte stecken.«
»Ihr fragt mich nach der Geschichte dieses Hauses?« Perry beobachtete, wie sie nickten, dann seufzte er. »Die kennt niemand, Jungs. Niemand. Jedenfalls nicht mehr. Vielleicht kannte sie mal jemand, aber wenn dem so ist, dann sind diejenigen inzwischen tot oder alt und senil. Dieses Viertel hat im Gegensatz zum Rest der Stadt kein Gespür für Geschichte. Denkt mal kurz darüber nach. In Philadelphia selbst leben über eine Million Menschen – fast sechs Millionen, wenn man das Einzugsgebiet mitzählt. Wir sind die viertgrößte Stadt im Land. Bei so vielen Leuten sollte man doch meinen, dass irgendjemand die Geschichte hinter dem Haus da drüben kennt – tut aber niemand. Die Bewohner können einem alles über die Liberty Bell, über Ben Franklin, die Underground Railroad und die Grippeepidemie erzählen. Sie wissen sogar alles darüber, wie die Polizei in den 1980er-Jahren der Freiheitsbewegung MOVE den Krieg erklärt und ihr Haus mit Brandbomben beworfen hat. Aber nichts davon hatte etwas mit unserer Straße oder unserem Block zu tun, wir zählen also nicht. Wir sind nicht mal ’ne Fußnote wert. Hier bringen nur Schwarze andere Schwarze um, und das erwähnen sie in den Nachrichten nicht, höchstens mal als kurzen Einschub zwischen Sport und Wetter.«
Nach einer weit ausholenden Geste fuhr er fort: »Schaut euch doch mal um. Seht ihr Jungs hier irgendwas, worauf man stolz sein könnte? Irgendwas, das bemerkenswert oder erinnerungswürdig wäre? Natürlich nicht. Wir haben keinen Stolz, weil es nichts gibt, worauf man stolz sein kann. Hier ist schlichtweg nichts, woran wir uns erinnern wollen. Und wenn das passiert, wenn die Leute in einem Viertel den Stolz für den Ort verlieren, an dem sie leben, dann geht auch ihre Geschichte – und die Geschichte des Viertels – verloren. Angenommen, ihr fahrt in die Vororte raus – wisst ihr, was euch dort erwartet?«
Die Jungen zuckten mit den Schultern und schüttelten die Köpfe. Dookie gestand, dass er noch nie außerhalb ihrer Nachbarschaft gewesen war.
»Tja, würdet ihr rausfahren, dann würdet ihr feststellen, dass die Leute in den Vororten sich untereinander nicht kennen. Sie fahren zur Arbeit. Sie kommen nach Hause. Sie gehen rein zu ihren Familien. Vielleicht kennen sie noch die Leute direkt nebenan gut genug, um ihnen zuzunicken oder ein paar Höflichkeiten auszutauschen – aber größtenteils können sie einem nicht sagen, wer in derselben Straße wohnt oder wie die Familie drei Häuser weiter heißt. Alles, was sie übereinander wissen, ist, wer welches Auto fährt und wer während des Wahlkampfs
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